Grenzenlose Freiheit

Verborgenes Leben, 14. Mai 2024

Die Regierung von Zürich fand keinen gemeinsamen Nenner, um das Drogenproblem zu lösen. Die einen waren zu verständnisvoll, zu wohlwollend und zu liberal, die anderen wiederum zu konsequent, zu hart, zu konservativ. Ich lernte junge Menschen aus der Szene kennen, ich fand in ihnen Weltverbesserer, Hoffnungsträger und Idealisten und fragte mich: «Warum haben wir für diese Suchenden keine glaubwürdigen Antworten? Wie könnte man helfen? Was wäre zu tun?»

Wenn zwei Seiten miteinander um die richtige Lösung streiten, geht nichts voran und es ist keine Lösung möglich, so zog sich die Situation um den Platzspitz mehr als zehn Jahre in die Länge, so lange, dass es ein Schandfleck für die Stadt Zürich, ja, für die ganze Schweiz wurde und die Weltpresse darüber berichtete. Ich war eine Befürworterin, den Platzspitz zu räumen, dem unguten Tummelplatz um den Hauptbahnhof ein Ende zu bereiten und einen Rettungsschirm für die Suchtkranken aufzuspannen. Ich plädierte dafür, ein Netz der Hilfe zu geben, um jenen zu helfen, die sich helfen lassen wollten.

Ich erkannte, warum es oft nicht weitergeht, weshalb sich Menschen, Gruppen, Politik und Wissenschaften immer weiter im Kreise drehen, ich verstand den Begriff «Teufelskreis» immer besser.

 

Ein junger drogensüchtiger Mann schilderte mir seine Situation so: «In mir hat sich der Teufel eingenistet, ja, er hat mich übernommen, er hat mir mein Leben genommen!» Er sprach nicht von der Sucht, er sprach von einer teuflischen Falle und Macht. Ja, ich konnte ihn verstehen, ich erkannte immer besser die Gefahr in der grenzenlosen Freiheit, mit der besonders junge Menschen überfordert sind. Auch hier stellte ich mir die Frage, welche Auswirkungen hat die Sucht auf die Seele, fragte mich auch, warum diese Generation so abstürzen konnte? Ich suchte Antworten für mich, stellte mir die Fragen über das Warum? Wie konnte es dazu kommen? Wer hatte ein Interesse daran, die Jugend zu verführen, aus ihren Idealen Gruben zu graben, in die sie fallen?

Die 68er-Bewegungen hatten die Unabhängigkeit und Grenzenlosigkeit auf ihre Fahne geschrieben und diese auch gefordert; sie wollten die Gesellschaft aufrütteln und gingen dabei, aus meiner Sicht, zu weit. Sie propagierten die freie Liebe, die durch die Anti-Baby-Pille auch ohne Verantwortung zu übernehmen, möglich wurde. Sie forderten weniger Arbeit, mehr Sinn, wollten veraltete, verkrustete Gesellschaftsschichten aufbrechen, propagierten dabei eine Zügellosigkeit, in der sie keine Grenzen akzeptierten. Doch Grenzen bieten auch einen natürlichen Schutz. Waren es Nachwirkungen dieser 68er- Bewegung? Waren es die Kinder jener Freiheitsbewegung, die das Grenzenlose für sich wählten? Ich wollte diese jungen Menschen verstehen, suchte mit ihnen den Dialog, das Gespräch. In ihren Schilderungen, im Trip, den sie beschrieben, vermutete ich eine unnatürliche Bewusstseinserweiterung, ein Entfliehen in eine Illusion, aus der es ein böses Erwachen gab, wenn die Wirkung des Suchtmittels nachließ und sich die Realität zeigte, die für sie nicht mehr auszuhalten war. Ja, ich bin sogar der Meinung, dass es diesen Zustand tatsächlich gibt – eine Art Glückseligkeit und einen tiefen Frieden – dass er im Glauben, in der schrittweisen Entwicklung erreicht werden könnte. Doch dieses ist mit viel, sehr viel Arbeit und Opfermut verbunden.

Ich sah die große Not, in der es nur noch um das Suchtmittel ging, um die Beschaffung des Geldes dafür und um den nächsten Schuss! Eine reiche Welt, eine armselige Welt – ohne Grenzen, ohne Sinn, ohne Religion, ohne Gott, so kam es mir vor.

Ich fühlte mich in Situationen hinein, nahm Stimmungen in mir auf, hielt inne, um in meinem Inneren die Gefühle, Mitgefühl, Trauer oder auch Freude nachzuempfinden.

VERBORGENES LEBEN

 

«Schreibe für dich den Weg, der bei dir zur direkten Kommunikation geführt hat auf, denn es hilft dir beim Helfen!»