Geistbruder Gabriel:
Es war eine kalte Nacht. In der Nähe weideten Hirten ihre Schafe und Ziegen. Sie sprachen miteinander am wärmenden Feuer. Der eine sagte: «Was ist das für eine Nacht? Etwas liegt in der Luft, ich bin hellwach!» Andere Männer sprachen auch von einer seltsamen Unruhe in ihrem Inneren, besorgt standen sie auf und gingen zur Herde, um zu schauen, ob alles in Ordnung war. Zurück am wärmenden Feuer, sagte einer der Ältesten: «Die Tiere sind außergewöhnlich ruhig. Sie liegen näher als gewöhnlich beieinander. Es liegt etwas in der Luft, ich spüre es auch!» Die Hirten rätselten, was das sein könnte, legten noch Holz nach und wussten nicht, was sie spürten, was an dieser Nacht so besonders war.
«Habt ihr diesen Stern schon gesehen?», fragte der Jüngste in ihrer Runde und zeigte zum Himmel. «Was ist das für ein Stern? So einen habe ich noch nie gesehen!», rief der Junge und schaute aufgeregt ins Himmelszelt. Fasziniert schauten nun alle zum Himmel und sahen den Stern, der größer und größer zu werden schien, der einen Schweif trug, heller zu leuchten schien, und doch eingebettet im Sternenzelt war. Alle waren sie andächtig geworden, berührt von etwas, das sie nicht kannten, nicht erklären konnten, jedoch alle spürten. Etwas Kosmisches, Heiliges verbreitete sich, und sie fühlten das hohe Geschehen, ohne es erfassen zu können. Die älteren Hirten beteten und erhoben ihre Seele, und die Jüngeren erfasste eine Ehrfurcht, die sie noch nicht kannten. Was war das für eine Nacht?
Nun durfte ich, Gabriel, ihnen erscheinen, im Sternenlicht, das heller und heller und auch größer wurde. «Seht den Stern, seht den Stern, seht das Licht! Es wird größer und heller, immer heller!», rief einer der Hirten. Ja, sie alle sahen es. Es machte sie bereit, meine Botschaft anzunehmen und in sich aufzunehmen.
«Hört, oh hört ihr Hirten und fürchtet euch nicht,
der Sohn Gottes ist auf die Welt gekommen!
Ein Teil des Heilsplans ist vollbracht
in dieser stillen, hochheiligen Nacht!
In einem Stall ist der gute Hirte geboren.
Ein Kind liegt in der Krippe, arm und bloß,
aber wisset, das Kind ist ein König groß.
Er wird die ganze Menschheit erlösen
von allem Übel und von allem Bösen!
Hört, oh hört ihr Hirten und fürchtet euch nicht,
der Sohn Gottes ist auf die Welt gekommen!»
Tief erschüttert versuchten die Hirten zu verstehen, was geschehen war. Die jüngeren sprudelten in großer Freude über das, was sie erlebt hatten, jedoch nicht verstehen konnten. Einer dachte, es wäre eine Halluzination, eine Sinnestäuschung, doch die anderen widersprachen. Nein, sie hatten sich nicht getäuscht, das Licht war gekommen und wieder gegangen. Sie hatten es tatsächlich erlebt! Sie wiederholten, was ich ihnen gesagt hatte. Da fasste einer der Hirten einen Beschluss: «Ich suche das Kind! Ich will wissen, ob es stimmt, ob es das Kind gibt, ja ich muss es wissen! Ich werde es suchen!» Das wollten die andern auch. «Wo sollen wir beginnen, wohin uns wenden?» «Und was geschieht mit der Herde?», fragte Jonas, der Älteste unter ihnen. Betroffen schauten sie einander an, die Tiere brauchten ihren Schutz. Es waren die Tiere Bethlehems, dem Ort des Brotes, wie er auch genannt wurde. Sie konnten sie nicht einfach allein lassen. Ihnen waren die Tiere anvertraut, sie sollten sie vor Raubtieren und auch vor Räubern beschützen. «Ich bleibe hier.», sagte Jonas, «Ohne mich kommt ihr schneller an euer Ziel.»
So war für alles gesorgt und die Hirten machten sich auf, um das Kind zu finden. Sie folgten dem Stern, er war ihnen ganz nah, schien sie zu führen und stand über einem felsigen Gebiet, in dem es Grotten für die Tiere gab. Die Hirten kannten sich gut aus, denn sie benutzten diese Grotten oft, wenn es nass und kalt wurde. Intuitiv folgte der Jüngste unter ihnen seinem Gefühl, und so führte sie ihr Weg vor eine der Grotten. Gespannt traten sie ein. Sie fanden eine Mutter, einen Vater, und sie fanden das Kind in einer Krippe liegend. Genau so hatte es der Engel im Licht ihnen gesagt. So war und ist meine Botschaft an das Volk, zu allen Zeiten: «Fürchtet euch nicht! Euch ist der Heiland und Retter geboren!»
Josef ging auf die Männer zu. Misstrauisch wollte er sie aus der Grotte weisen, doch eine leichte Handbewegung Marias zeigte ihm, dass sie keine Gefahr in den Ankommenden sah. Die Hirten kamen näher und standen nun zutiefst andächtig, ergriffen vor der Krippe, vor dem Kind und seiner Mutter. Der Anblick berührte sie in ihren Herzen. Sie fühlten sich angehoben, eingehüllt in Liebe und Wohlwollen. Es war wie ein Traum und doch war es Wirklichkeit. Sie wussten, dass etwas ganz Besonderes geschah, sie waren bis tief in ihre Seele berührt und gleichzeitig irgendwie betroffen. Es war so, wie ich es ihnen verheißen hatte und sie versuchten, das alles in ihr Inneres aufzunehmen. Maria nahm Jesus aus der Krippe und sie legte ihr Kind in die Hände der Hirten, übergab ihn den rohen Händen dieser Männer. Erst einem, dann dem anderen, zuletzt dem Jüngsten. Es waren sechs Hirten, sechs Hirten, die in die Grotte gekommen waren, und Maria fragte: «Seid ihr alle?» Der Zweitälteste antwortete: «Wir sind nicht alle. Jonas, unser Ältester ist bei der Herde geblieben.» Maria nickte und sie dachte an den siebten. Sie wusste, dass diese Hirten eine tiefere Bedeutung hatten. Diese sieben Männer aus dem Volk, sie hatten den Retter der Welt auf ihren Armen, er berührte jeden von ihnen auf seine ganz eigene Weise. Sie waren nicht mehr dieselben, als sie die Grotte verließen. Sie waren Berührte, berührt vom Geist Gottes, vom Vater und dem Sohn.
Die Hirten waren einfache Männer, nicht angesehen, jedoch geschätzt von jenen, die dankbar waren für den Dienst, den sie ausführten. Sie nahmen die Lämmer, die frisch auf die Welt kamen auf ihre Arme, voller Dankbarkeit hegten und pflegten sie die Lämmer und die Muttertiere. Sie wussten, dass die meisten der Tiere zum Opfer gebracht wurden, Gott zur Ehre. Für die Herzenshirten waren es echte Opfer, denn sie liebten diese Tiere, sie sorgten für sie und schützten sie. Jonas, der bei der Herde geblieben war, dachte über vieles nach und er fühlte in seinem Herzen, dass er mit der Engelsbotschaft in besonderem Maß verbunden war.
Er wusste aus den Schriften ihrer Väter, den Überlieferungen des Volk Gottes, dass ein Retter, der Messias verheißen war. Er wusste auch, dass er aus Bethlehem kommen würde. Er wusste, dass er von einer ganz jungen Frau geboren werden würde. Über all dem versuchte Jonas, der Hirte, zu ergründen, wie alles zusammengehörte und zusammen passte. Und er konnte erfassen, dass dieses Geschehen, die Botschaft des Engels, eben dieses Ereignis angekündigt hatte. So halb wach und doch wie benommen wurde er eingehüllt in eine warme Lichtwolke und es wurde ihm in einer Art Vision, ein neugeborenes Kind in seine Arme gelegt. Er sah ein Mädchen, noch nicht 15 Jahre alt, und er wusste, dass sie die Mutter war. «Er ist der Verheißene.», das wusste Jonas. Tränen liefen über sein Gesicht. Er lobte den großen All-Einen, ging auf die Knie und dankte für die Einsicht, die ihm gewährt wurde. Diese Einsicht erschütterte ihn in noch viel größerem Maße, als es die Engelsbotschaft getan hatte. Ohne dabei gewesen zu sein, war er, Jonas der Hirte, mittendrin im Geschehen der stillen und heiligen Nacht.