Als Maria und Mirjam nach der Kreuzigung zurück in das Haus von Susanna kamen, warteten Martha und ihre Schwester Maria, aus Bethanien, Jakobea und Lea auf sie. Lea stürmte auf Maria zu und fragte: «Ist das wahr? Sag, dass es nicht wahr ist!» Der Blick Marias sagte mehr, als alle Worte es gekonnt hätten. Sie sah müde und erschöpft aus, doch sie stellte sich der Frauenrunde, die erfahren wollte, was geschehen war und wie sich alles zugetragen hatte. In großer Enttäuschung und im Entsetzen hörten die Frauen der Erzählung der Mutter Maria und Mirjam, die die größte Ungerechtigkeit aller Zeiten miterlebt hatten und wussten, was geschehen war.
Da klopfte es energisch an der Tür. Alle erschraken und sahen sich an. Thekla öffnete vorsichtig und schon stürmte Veronika in den Raum: «Ich konnte nicht mehr allein sein! Wie konnte das nur geschehen?» Verzweifelt schaute sie Maria an. Diese schaute nach unten, senkte ihren Kopf, sie konnte nichts mehr sagen, sie hatte keine Worte mehr, keine Kraft mehr für Erklärungen. Veronika war erschüttert, wie sie alle. Sie erzählte, dass sie gestern noch bei Pilatus vorgesprochen hatte, ihn beschwor, Gnade walten zu lassen. Sie hatte ihm gesagt, dass Jesus ein großer Heiler sei und er den Menschen nur Gutes getan habe. Nach der Begegnung mit Pilatus war sie beruhigt nach Hause gegangen, in der Überzeugung, er würde besonnen und mit Bedacht handeln. Mit großem Entsetzen sah sie einige Stunden später den Zug der Verurteilten, in dem Jesus als Gebrochener, Misshandelter und wie ein Verbrecher durch die Gassen Jerusalems getrieben wurde. Sie drängte sich durch die Menschenmengen, die über ihn lästerten, ihn verhöhnten, unverschämt seine Lehre zitierten und diese lächerlich machten. Er stürzte unter der schweren Last des Holzes, das ihm auf die Schulter gebunden war und fiel vor ihre Füße. Sie wischte ihm bitterlich weinend das Blut aus den Augen und aus dem Gesicht. Er schaute sie für einen kurzen Moment dankend an. In diesem Blick war so viel, das sie nicht verstehen konnte. Sein Blick flehte um Barmherzigkeit, doch sie war voller Empörung und Wut. Wie konnten die Menschen es wagen und wie konnte Gott das zulassen?
Ein heftiger Peitschenhieb zwang Jesus wieder aufzustehen, um weiterzugehen, weiter zu wanken. Gnadenlos prassten die nächsten Hiebe auf seinen Rücken ein. Veronika sank auf den Boden, in tiefer Verzweiflung, in der Anklage gegen die Obrigkeiten und auch gegen Gott, den mächtigen Gott, in dessen Dienst sie Jesus sah. Sie wusste, wer dahintersteckte: der Hohe Rat, die Schriftgelehrten und die Priestergilde. Sie kannte ihre Machenschaften, ihre Scheinheiligkeit. Es passte ihnen nicht, denn Jesus predigte nicht das Gesetz, er predigte die Liebe, Güte und Barmherzigkeit. Sie hatte ihm oft zugehört, sie hatte seine Heilungen miterlebt und sie wusste, er würde die Welt in eine neue Wahrheit führen. Er handelte in der Macht und Herrlichkeit Gottes, und nun ließ Gott es zu, dass er in ihren Händen zu Tode kam. Wer sollte das verstehen, wer diese Ungerechtigkeit ertragen? Diese Fragen setzten sich in Veronika fest. Es blieb keine Barmherzigkeit für jene, die höchstes Unrecht taten, es blieb nur Verbitterung. Die Frauen sprachen noch lange über die Geschehnisse, ihre Gefühle und über alles, was sie mit Jesus erlebt hatten.