Es war kurz vor meinem 13. Geburtstag. Ich lag mit hohem Fieber im Bett, wir erwarteten den Arzt, der wegen mir zu einem damals noch üblichen Hausbesuch kommen wollte. Ich hörte im Stübli unter mir eine Männerstimme, ich erkannte sie als jene des Arztes. Er sprach ernst. Jetzt hörte ich auch die Stimme meiner Mutter, sie schien aufgeregt und fragte etwas nach. Ich konnte nichts verstehen, doch ich spürte, dass etwas passiert sein musste. Ich schlüpfte aus dem Bett und ging die Treppe hinunter. Als ich die Türe öffnete, sah ich den Arzt, in seiner Hand hatte er den Schuh meines Bruders. Ich sah meine Mutter erschrocken, kreidebleich. Sie sah mich an und doch auch wieder nicht, als ginge ihr Blick an mir vorbei, ins Leere. «Ihr Sohn hatte einen Unfall, er kam in meine Praxis und sagte, er habe schreckliche Kopfschmerzen, dann brach er in meinen Armen zusammen. Er hat das Bewusstsein verloren und wurde ins Krankenhaus gebracht.» Theddy, der zweitälteste Sohn der Familie, unser freudiger Bruder, lag im Krankenhaus und kämpfte um sein Leben. Ohne je wieder zu erwachen, starb er einige Tage später mit gerade 20 Jahren an den Folgen seines Motorradunfalls. Ab diesem Zeitpunkt hatte ich nie mehr Fieber.
Damals wurden die Verstorbenen noch einige Tage zuhause im Sarg aufgebahrt, heute mag das befremdlich sein, ich empfand es damals als Trost und als Hilfe. So konnte die Familie, Freunde und Nachbarn Abschied nehmen. Und es wurde jeden Abend am Sarg gebetet.
Unser Theddy lag im Stübli und mein kleiner Bruder wollte ihn unbedingt sehen, also hob ich ihn hoch, dabei berührten wir den Sarg und Sepp, mein kleiner Bruder, meinte:
«Er schläft, er hat sich bewegt. Warum wacht er nicht auf?»
– «Er ist gestorben, er wacht nicht mehr auf»
– «Nie mehr?»
– «Nie mehr!»
Auch ich fühlte mich überfordert. Ich hatte noch nie über das Sterben und über den Tod nachgedacht. Das Endgültige wurde durch den Sarg, durch seine Aufbahrung viel bewusster, auch wenn es schmerzte. Es wurde eine große Beerdigung. Obwohl wir noch nicht bekannt und neu zugezogen waren, nahm die ganze Bevölkerung, das ganze Dorf Anteil an unserem Schmerz und dem tragischen Unglück. Ich empfand das als tröstlich.
Für unsere Familie war das ein sehr großer Einschnitt und nach dem Todesfall wurde die Stimmung im Familienverbund sehr bedrückend. Jeder versuchte auf seine Weise mit diesem Schicksalsschlag umzugehen. Tief in mir, hegte ich einen Groll gegen meinen Bruder, ich machte ihm den Vorwurf, dass er zu wenig geschlafen hatte und deshalb dieser folgenschwere Unfall geschah. Ich machte auch Gott Vorwürfe. Warum ließ er das zu? Die fröhlichen Stunden kamen nicht mehr zurück, meine heile Welt im Familienverbund brach zu dieser Zeit das erste Mal in sich zusammen. Es kam mir vor, als hätte unser lebensfroher Bruder Theddy das Lachen, die Unbeschwertheit und Freude mitgenommen, als er aus unserer Mitte und aus seinem Leben schied. Der Vater wurde noch stiller, die Mutter war gezeichnet vom Schmerz der Mutter, die ihr Kind zu Grabe tragen musste.
Es sind die Tage, in denen es ein Vorher gab und ein Nachher gibt, indem sich alles auf einen Schlag und ohne Vorankündigung für alle verändert.