Liebevolle Konsequenz

Verborgenes Leben, 05. Mai 2024

Ich betreute in dieser Zeit auch eine Alkoholikerin, die oft anrief, meist mitten in der Nacht, sie weinte und forderte mich auf, zu ihr zu kommen, um ihr zu helfen. Dreimal war ich diesem Ruf schon gefolgt, war mitten in der kalten Dezembernacht bei schwierigsten Straßenverhältnissen 40 Kilometer gefahren, um dem heulenden Elend Mut zuzusprechen. Die stundenlangen Gespräche, die Versprechen, sich in eine Klinik zu begeben, um sich helfen zu lassen, waren jedoch jedes Mal schnell vergessen, so wie es die Sucht eben mit sich bringt. Als die Frau wieder anrief, kurz vor Weihnachten, nachts um 23.30 Uhr und mich aufforderte zu ihr zu kommen, erklärte ich mit Bestimmtheit: «Nein, ich komme nicht. Ich kann dir nicht helfen, du musst jetzt dir selbst helfen, selbst die nächsten Schritte tun.» Ich hörte förmlich, wie sie überrascht war über meine Antwort. In ihren Worten hörte ich eine Empörung mitschwingen, als sie antwortete und drohte: «Dann bring ich mich um, wenn du nicht kommst, dann bring ich mich um!» Nun wartete ich einen Moment, bat im Inneren um Hilfe und antwortete unmissverständlich: «Das ist deine Entscheidung, ich habe damit nichts zu tun!» Ich spürte, wie sie in die Empörung, in die Wut ging. Ich spürte, wie ich gerade zum Gegner gemacht wurde. Es stellte sich mir eine Macht entgegen, die ich schon oft erlebt hatte und mir nicht fremd war, denn in der Suchtkrankenhilfe begegnete sie mir immer wieder. «Jesus, hilf mir!», flehte ich in meinem Inneren und schon hörte ich mich sagen, mit viel Wohlwollen sagen: «Ich verstehe dich und ich sehe den Berg, den du zu bewältigen hast, ich verstehe, dass er dir Angst macht, doch wisse, wenn du dir das Leben nimmst, stehst du vor dem gleichen Berg, den du bezwingen musst. Dein Problem ist nicht gelöst, du nimmst es mit. Aber wisse, drüben in der Seelenwelt wirst du keine Beine mehr haben, deinen Berg zu besteigen. Überlege es dir gut, ich habe alles in meiner Macht Stehende getan, jetzt bist du dran.» Hatte ich das gesagt? Hatte ich das wirklich gesagt? Ich wusste, dass es so ist, ich wusste, dass diese Worte der Wahrheit entsprachen, doch, wie konnte ich diese so klar aussprechen? Wer gab mir diese Klarheit und Sicht?

Es entsprach bis anhin nicht meinem Naturell so zu reagieren, doch ich lernte – gerade in und durch die suchtkranken Menschen – die jeweilige Hilfeleistung zu unterscheiden. Es sind Prozesse, um eine solche Klarheit in sich zu entwickeln, ohne dabei die Barmherzigkeit zu vergessen, um dann im richtigen Maß von beiden Teilen, in Klarheit und Barmherzigkeit, zu handeln.

Die Frau hatte sich einen Monat später in eine Entzugsklinik begeben und den Kampf gegen den Alkohol an- und aufgenommen. Sie trat somit in die eigene Verantwortung und wurde dann in das Helfernetz der Suchtkrankenhilfe aufgenommen. Doch auch dort musste sie die nötigen Schritte tun, sich mit sich selbst auseinandersetzen und eigene Schwächen eingestehen.

Liebevolle Konsequenz, das waren also die nächsten Lektionen, in die ich, in meinem Dienst für Gott, geführt wurde. In diesen Jahren mit suchtkranken Menschen lernte ich, mich einerseits abzugrenzen und doch ganz da und nah zu sein. Es schmerzte mich, zu sehen, wie Menschen in Abhängigkeiten rutschten, der eigene Wille von Suchtmitteln zuerst überlagert, dann allmählich ganz übernommen wird.

Die Erkenntnis, dass man das Kreuz des anderen nicht abnehmen kann, nicht abnehmen darf, ja, nicht abnehmen soll, war für mich wie ein Durchbruch. Ich war verantwortlich, jedoch nur für mich, ich musste mutig werden, ich musste lernen die Wahrheit, die ganze Wahrheit sagen. Ich musste und wollte die Wahrheit bringen, wo die Vertuschung, die Lüge wohnt! Dieses war doch mein Gebet – und das Gebet wurde zu meiner Wahrheit! Offenheit kam jedoch selten gut an, ich wurde dadurch angegriffen und bekämpft; wer die Wahrheit sagt, hat die Lüge zum Gegner.

VERBORGENES LEBEN

 

«Schreibe für dich den Weg, der bei dir zur direkten Kommunikation geführt hat auf, denn es hilft dir beim Helfen!»