Ich hatte viele Rückschläge und schwere Zeiten in Deutschland durchlebt, stellte in mir Veränderungen fest und es beunruhigte mich, solche auch bei meiner Tochter zu sehen. Zunehmend litt sie an Unpässlichkeiten. Und als sie schließlich im Hochsommer mit hohem Fieber für zwei Wochen im Bett lag, wusste ich: Das war kein gutes Zeichen, das kannte ich schon von damals, als Nicole lebensbedrohlich erkrankt war. Ich wollte diesmal frühzeitig erkennen und erfassen, was sich schon einmal in das Leben meiner Tochter eingeschlichen hatte. Ich nahm mir Zeit, wann immer es mir möglich war, begleitete meine Tochter in Gesprächen. Ich hielt die Sorge um sie aus, ohne sie in diesem Prozess zu beeinflussen oder zu stören, versuchte für sie da zu sein.
Nicole sprach von Veränderung, sie war nicht mehr zufrieden mit ihrer Arbeit. Ihr ging es nie um Stellung oder um Ansehen, es ging ihr um mehr. Ihre Seele drängte nach mehr, ohne dass sie wusste, nach was. Das erkannte sie und sie bat um Hilfe und Klarheit in ihrem Inneren.
Auch Nicole hatte in den sieben Jahren vieles erlebt, Hürden genommen und sich immer wieder in den Dienst für Gottes Sache gestellt. Als sie sich zu ihrem jungen Gefährten bekannte, der wohl für einige ein Hoffnungsträger war, im eigenen Fernsehstudio der Glaubensgemeinschaft seine Ausbildung gemacht hatte, erlebte sie Unverschämtes: Als sie offen zu dieser Beziehung stand, wurde sie ausgegrenzt und abgestempelt, selbst von Freunden zunehmend gemieden. Ihre Beziehung, die sie selbst lange abgelehnt hatte, weil ihr der Altersunterschied zu groß erschien, wurde von einem angesehenen Glaubensbruder kommentiert mit den Worten: «Jetzt kennen wir deine Scheiße.» Nun durfte sie nicht mehr ins Fernsehstudio und keine Sendungen mehr moderieren, die Jugendarbeit wurde ihr zunehmend erschwert und teilweise verwehrt. Auch wurde sie mehrfach angesprochen. In ihrer Arbeit, die sie wirklich liebte und mit Freude erfüllte, wurde sie auf vielfältige Art kritisiert, sie wäre falsch angezogen und füge sich den unausgesprochenen Regeln und den Anpassungen nicht. Ihr Wesen wurde nicht erkannt.
Sich selbst treu zu bleiben war die Lektion, die sie gelernt hatte und deren Bemeisterung sie aus ihrer lebensbedrohlichen Krankheit herausgeführt hatte. Dieses würde ihr nicht mehr passieren, dieses konnte sie sich nicht leisten. Und ich war erstaunt, wie gut meine Tochter all diese Kränkungen und Verletzungen in sich verarbeiten konnte. Sie war in Frieden mit allem, sie trug niemandem etwas nach, verurteilte nicht.
Doch sie sah für sich kein Wachstum, Nicole wollte keine «Verantwortliche» in einem Betrieb sein, sie wollte mehr. Am schwersten fiel es ihr, die Verantwortung in der Jugend der Glaubensgemeinschaft abzugeben. Sie fühlte eine innere Verantwortung für die jungen Menschen, wollte ihnen helfen und beistehen in dem Prozess, in dem sie selbst so viel gelernt und erfahren hatte. Sie wusste, wie wichtig es war, zu sich zu stehen, den eigenen Idealen treu zu sein und höheren Wertevorstellungen zu folgen. Doch auch diese, ihre echte Motivation, konnten jene nicht sehen, die mit ihr unterwegs waren. Ihre Ansichten wurden hinterfragt, sie musste sich erklären, was ihr wiederum als Verteidigung als Schuldeingeständnis ausgelegt wurde.
«Was möchtest du, wenn du ganz frei wählen könntest? Was möchtest du?», mit der Frage führte ich meine Tochter wieder auf ihre eigene Spur, der sie nun wieder folgen konnte und wollte. Sie sagte, sie möchte zu ihrem Weg zurückkehren, so wie sie ihn gesehen habe, als sie sich nach ihrem Krankheitsprozess für die Ausbildung zur Drogistin entschieden hatte. Damals war ihr Ziel gewesen, nach abgeschlossener Lehre auf diesem Gebiet weiterzumachen.
Nach einigen wenigen Tagen der Bedenkzeit war ihre Entscheidung gefallen. Nicole wollte die Spur ihres eigenen Weges wieder einschlagen und entschied sich dazu Heilpraktikerin zu werden. Sie suchte eine Schule, in der sie sich das nötige Rüstzeug und die entsprechende Ausbildung für ihren weiteren Weg erarbeiten konnte. Dank ihrer Sachkenntnis, die sie als Drogistin bereits mitbrachte, war es ihr möglich, die dreijährige Vollzeitausbildung auf zwei Jahre zu verkürzen. Sie konnte die Schule schon wenige Wochen nach der Entscheidung beginnen. Dafür musste jedoch eine bezahlbare Wohnung in Wiesbaden gesucht werden. Diese wurde, wie durch ein Wunder, an einem der ersten Tage des Jahres 2012 gefunden und am nächsten Tag, unmittelbar nach dem Unterschreiben des Mietvertrags, zu einem gemütlichen Zuhause eingerichtet.
Nicole wohnte nun mitten in Wiesbaden, konzentrierte sich auf ihre Heilpraktiker-Schule und am Wochenende kam sie jeweils zurück in den Spessart, in dem sie auch ihr Zimmer in ihrer Wohngemeinschaft hatte behalten können. Ihr Vater und auch Freunde unterstützten sie, damit sie dies realisieren konnte.