Ich saß mit Jeschu auf der Anhöhe unweit Seines Elternhauses. Diese Schwere, die seit dem Wiedersehen mit seiner Mutter auf Jesus lag, hatte ein neues Ausmaß, eine Trostlosigkeit, die ich so noch nie gespürt hatte. Was konnte Ihn und Seine Mutter nur so bedrücken? «Dieses Gefühl in mir, es schnürt mir die Kehle zu. Ich sehe, wie Du leidest und ich sehe auch, dass sich Maria große Sorgen macht. Was ist los?», fragte ich leise, nicht wissend, ob ich darauf wirklich eine Antwort wollte.
«Ich weiß nicht, wie Ich es dir sagen soll.», sagte Jeschu flüsternd. «Warum nicht? Mit Maria hast Du es doch auch geteilt?» «Das ist etwas anderes. Sie wusste es schon.» «Wie … wie ist das möglich?» Jesus sagte nichts. Und dann: «Es wird schwer werden. Für uns alle. Doch besonders für dich und für mich.» Wir blieben still und ich versuchte, mich ruhig zu verhalten, so, dass es für Jesus einfacher wäre zu sprechen. Es fühlte sich an, als würde Er sich jedes Wort abringen müssen. Jesus begann eine Prophezeiung zu zitieren: «Er wurde misshandelt, aber er beugte sich und machte seinen Mund nicht auf wie das Lamm, das zur Schlachtung geführt wird» automatisch ergänzte ich: «und wie ein Schaf, das stumm ist vor seinen Scherern; und er machte seinen Mund nicht auf.» Ich war vertraut mit den Schriften. Mein Vater war ein sehr strenggläubiger Jude und wir hatten uns des Öfteren unterhalten über den, der kommen sollte, um alles besser zu machen, der erwartete Messias, der das Volk Israel befreien würde. «Menschensohn, du wohnst mitten unter einem widerspenstigen Volk, das Augen hat, um zu sehen, und doch nicht sieht, das Ohren hat, um zu hören, und doch nicht hört; denn sie sind ein widerspenstiges Volk», zitierte ich aus meiner Erinnerung. Ich blickte zu Jesus: «Das bedeutet …» «… dass Ich dem Richter vorgeführt und getötet werden werde.», beendete Jesus den Satz. «Wann?», hörte ich mich selbst fragen. Jesus antwortete: »Unser nächstes Ziel ist Jerusalem.», und fügte sarkastisch die Worte Sacharjas hinzu: «Juble laut, Tochter Zion! Jauchze, Tochter Jerusalem! Siehe, dein König kommt zu dir. Er ist gerecht und hilft; er ist demütig und reitet auf einem Esel, auf einem Fohlen, dem Jungen einer Eselin.» Ich konnte die Tragweite Seiner Worte nicht fassen. In mir wurde etwas taub und die zuvor gespürte Beklommenheit wich einer Art Taumel. Es war, als wäre nur noch das Lebensnotwendigste meines Wesens in meinem Körper, der andere Teil schien nicht mehr anwesend zu sein. Nur sehr langsam drangen Seine Worte in mein Bewusstsein und ich spürte das Herablaufen einer warmen Träne auf meiner Wange. Ich versuchte zu verstehen, mich daran zu erinnern, was dies alles bedeutete. So lauteten die Voraussagen und Prophezeiungen: «Siehe, es kommen Tage, spricht der Herr, da werde ich dem David einen gerechten Spross erstehen lassen. Er wird als König herrschen, weise regieren und Recht und Gerechtigkeit üben im Lande. In jenen Tagen wird Juda geholfen werden, und Israel wird in Sicherheit wohnen. Das ist der Name, den man ihm gibt: Der Herr ist unsere Gerechtigkeit!» Und Ihm würde ein Bote vorausgehen. Viele der Anhänger sahen darin den Täufer, darum hatten sich auch Anhänger von Johannes dem Täufer nach seinem Tod uns angeschlossen. Der Retter entfachte Diskussionen um die Befreiung des Volkes und die Herrschaft, doch keiner hatte dabei die Konsequenz dessen im Auge gehabt: Dass der Weg des Vorausgekündigten auf der Schlachtbank endete. Aber waren diese Worte wirklich so gemeint oder waren es auch nur Bildnisse, so wie Jesus in Bildnissen sprach? Ich hatte mich bisher an diesen Diskussionen nicht beteiligt, es schien mir nicht wichtig. Doch nun versuchte mein Verstand sich an alles zu erinnern, was ich über den angekündigten Messias gehört hatte: Mitfühlend wie ein Hirte für seine Schafe, sanftmütig, ohne zu prahlen, seinen Dienst in Galiläa und am Jordan ausüben, voller Weisheit sein und in Gleichnissen sprechen, ein Heiler sein, Gebrochene aufrichten. Und hatte nicht Maria vor wenigen Tagen erzählt, dass Jesus in Bethlehem geboren wurde? «Und du, Bethlehem Efrata, die du klein bist unter den Tausenden in Juda, aus dir soll mir der kommen, der in Israel Herr sei, dessen Ausgang von Anfang und von Ewigkeit her gewesen ist.», hörte ich die Schrift in mir. Doch irgendetwas daran stimmte nicht, es passte nicht zusammen. Mein Gefühl wehrte sich und ich versuchte fieberhaft etwas zu finden, was Seine Ankündigung widerlegte. Ich fand nur eines: «Es ist zu früh.», sagte ich bestimmt, so, als würde der Ablauf in meinen Händen liegen und ich unterstützte meine Argumentation mit meinen Vorstellungen: «Stell dir vor, was wir noch bewirken könnten, wenn … wir könnten noch in andere Länder reisen und … heißt es nicht, dass Er in der ganzen Welt bekannt sein wird, weil Er für die Sünden aller stirbt? Es kann nicht jetzt sein. Nicht jetzt! Es ist zu früh!» Ich versuchte mich an dem festzuhalten, was dagegensprach. «Die Menschen bestimmen die Zeit.», sagte Jeschu leise. Ohne wirklich zu verstehen, was Jesus sagte, antwortete ich trotzig: «Eben. Und ich sage: Es ist zu früh!» Jesus wandte Seinen Blick von mir ab. Ich ahnte nicht, wie sehr dies auch für Ihn ein Kampf war. In die Ferne blickend sagte Er bestimmt: «Die Saat ist ausgetragen.»
Die unbestechliche Wahrheit dieser Worte durchbrach den Taumel und traf mich mitten im Herz. Es war der Schmerz der Gewissheit, der augenblicklich mein Herz durchbohrte. Die Sinnhaftigkeit dessen, schien jede Lücke meines Bewusstseins mit einer unbestechlichen Klarheit auszufüllen. Es war folgerichtig, so wie jeder Tropfen Wasser, wie jeder Fluss im Meer mündete. Doch mein Verstand blieb klar. Die Saat war ausgetragen. Er hatte alles getan. Er hatte alles gesagt. Alles Weitere lag in den Händen der Menschen, die Seine Worte gehört und Ihn erlebt hatten. Doch wie viele von ihnen hatten erfasst, was Er lehrte? Sie waren fasziniert, ja, aber hatten sie verstanden, hatten wir verstanden? Manchmal erreichten seine Ausführungen nur die Neugierigen und sie wollten nur wissen, um überlegen zu sein. Ich hatte Jesus oft leiden sehen unter den Verhalten Seiner Nachfolger und Anhänger. In der letzten Zeit war dies immer häufiger der Fall gewesen. Gerade, wenn Seine Nächsten die Dimensionen dessen, was Er sprach oder Seines Verhaltens oft nicht mal sehen konnten, geschweige denn erfassen konnten, litt Er. Ich hatte bemerkt, dass Er ruhiger geworden war, sich zurückhielt und immer weniger sagte. Die Saat ist ausgetragen. Die Unbestechlichkeit dieser Worte half mir, trotz des unendlichen Schmerzes, in mir Platz zu machen für einen neuen Ansatz: «Wann wird der Same aufgehen und Früchte bringen?», fragte ich. «Der Mensch bestimmt die Zeit.», antwortete Er.
Wir saßen ruhig nebeneinander. Ich legte meinen Kopf auf Seine Schultern und schmiegte mich an Seine Seite. Schon früher hatte ich mir gewünscht, die Zeit mit Ihm verlängern zu können. Doch dieser Wunsch schien mir nun lächerlich klein, in Anbetracht dessen, was auf Ihn zukommen würde. Er hatte es mir prophezeit, es würde mehr weh tun, wenn ich nicht loslassen würde. Und ich spürte, dass etwas in mir der Situation standhielt. Doch der andere Teil, war auch noch da. Ich wollte diesem nicht zu viel Raum geben und flüsterte: «Ich will nicht, dass du gehst.» «Ich weiß.», antwortete Jeschu leise und legte dabei Seinen Arm um mich. Ich spürte, wie meine Tränen Seinen Umhang feucht werden ließen. Wir saßen lange wortlos nebeneinander. Beide in ihren eigenen Gedanken versunken. Es gab keine Worte mehr. Nach einer Weile rückten wir ein Stück auseinander, um uns mit dem Vater verbinden und beten zu können.
«Ich erinnerte mich gut an jene Tage, die wir, kurz bevor wir nach Jerusalem gingen, in Nazareth verbracht hatten. Es waren die Tage, die alles verändert hatten, in denen das Glück, das Aufgehoben- und das Geborgensein überschattet wurden von der Schwere; eine Schwere, die nicht wieder gehen würde.»