Thomas

Am Anfang, 11. Mai 2020

Seit Jesu Tod war bei Seinen Begleitern zum ersten Mal so etwas wie Ruhe eingekehrt. Sie waren still und ohne weitere Worte auszutauschen auseinander gegangen. Niemand wollte das Erlebte zerreden. Es war eine heilige Stille in ihnen eingetreten, die sie niemals zuvor erlebt hatten, ein Erfülltsein von etwas, das sie bis anhin erahnt hatten, aber nicht in dieser Dimension zu spüren vermochten, wie am Vorabend, als der Herr zu ihnen zurückgekehrt war. Sie alle hatten einen Schlafplatz in Bethanien gefunden, das Gehöft des Lazarus verfügte über viele Nebengebäude und bot ausreichend Platz, sie alle zu beherbergen.

Man traf sich wieder bei einem gemeinsamen Frühstück im Hauptgebäude. Nach einem gemeinsamen Tischgebet wich die andächtige Stimmung des Vorabends einer lebendigen Diskussion darüber, was man gemeinsam erlebt hatte. «Wir haben Ihn wirklich gesehen!», begann Johannes. «Ja, viel mehr noch, wir haben Ihn alle gehört! Er war da und hat zu uns gesprochen!», ergänzte sein Bruder Jakobus. «Ich kann es immer noch nicht ganz glauben, es scheint so unwirklich, nach alldem, was passiert ist.», warf Simon ein. «Was meint ihr nochmal, was Er zu euch gesagt haben soll?», fragte Thomas ungläubig. Die anderen hatten ihm natürlich berichtet, was sich nach seinem Verlassen des Raumes ereignet hatte. Matthäus, der sich schon immer damit ausgewiesen hatte, ein sehr gutes Gedächtnis dafür zu haben, was der Herr sagte, versuchte, so gut er sich erinnern konnte, das wiederzugeben, was Jesus gestern Abend zu ihnen gesagt hatte: «Als Menschensohn musste Ich misshandelt werden wie ein Lamm, das man zum Schlachten führt.» Auch Lazarus erinnerte sich: «Ja, Er sagte etwas von Opferlamm.» «Er hat die Psalmen rezitiert, die Er auch am Kreuz immer und immer wieder sagte. Es steht in den alten Schriften, die besagen, dass ein Messias kommt, der als Opferlamm getötet wird und somit den Plan Gottes erfüllt!», sagte ich und erinnerte mich schmerzlich daran, wie sich Jesus am Kreuz damit selbst Kraft zugesprochen hatte. «Er hat nun selbst den Beweis erbracht, dass Er ist, was Er ist!», ergänzte Maria, Seine Mutter. «Ja schon, aber wird man uns glauben, wenn wir sagen, dass wir Ihn gesehen haben?», meinte Salome zögerlich, die um das Geschwätz der Leute wusste und dass man einer Erzählung eines auferstandenen Toten, vor allem, wenn es sich um Jesus von Nazareth handelte, nicht einfach Glauben schenken würde. «Also ich glaube euch nicht.«, erklärte Thomas nüchtern. Schon immer war er jemand gewesen, der immer alles ganz genau wissen musste, sich gerne im Detail verlor. «Glaubst du etwa, wir lügen dich an?», fragte ihn Martha gerade raus. «Nein, das sagte ich nicht, ich glaube nur nicht, dass Jesus auferstanden ist. Ich kann nicht an etwas glauben, was ich selbst nicht gesehen habe.» Thomas war bekannt dafür, nur das annehmen zu können, was er verstehen konnte. Immer wieder führte er mit Jesus lange Gespräche darüber, was in seinem Weltbild nicht passte. Er wollte verstehen und wissen. «Also wird uns niemand glauben!», stellte Maria, die Schwester des Lazarus fest, mutlos ob des Unglaubens von Thomas.  «Das ist doch jetzt nicht wichtig!», warf Johannes ungeduldig ein, «Wichtig ist doch, dass wir erst einmal glauben, was passiert ist!» Doch Thomas schien sich nicht beirren zu lassen: «Offensichtlich ist es ja so, dass diese Auferstehung nicht von langer Dauer ist.» «Was soll denn das schon wieder heißen?», wollte Andreas wissen. «Jetzt können wir Ihn ja nicht sehen, oder hören, also ist diese Auferstehung wohl eine limitierte Sache.», versuchte Thomas seinen Standpunkt weiter auszubauen. «Limitiert? Du hast gerade von uns allen vom auferstandenen Messias gehört, den wir mit eigenen Augen gesehen und mit eigenen Ohren gehört haben und wagst es zu sagen, es wäre limitiert, Er wäre limitiert?!», Petrus konnte sich nicht mehr halten, «Schon immer gab es Diskussionen wegen dir, wärst du nur bei den Zeloten geblieben!», seine geballte Faust traf mit hartem Ton die Holzplatte des Tisches und die darauf stehenden Tongefässe schlugen gegeneinander.

Es ging ein Raunen durch unseren Raum und die Andacht der feierlichen Stunde, in der wir uns angehoben und sicher gefühlt hatten, beglückt vom Glauben und verbunden durch unseren Rabbi und Meister, war verflogen. Anstatt uns über das Wunder auszutauschen, das wir gemeinsam erlebt hatten, saßen wir da und standen dem, was mit uns passierte hilflos gegenüber. Auch Thomas bemerkte, dass er durch sein Zweifeln die Stimmung betrübte und meinte kleinlaut: «Ich meinte doch nur, diese Auferstehung scheint, wenn es sie denn wirklich geben sollte, kein Dauerzustand zu sein!» Lea, eine jüngere Frau, die Jesus schon von klein an kannte und gestern mit ihren Eltern nach Bethanien gereist war, schien der Stimmungswechsel im Raum unbeeindruckt zu lassen. In Träumereien versunken fragte sie: «Wo Er wohl ist und was Er wohl macht, wenn Er nicht bei uns ist?» «Er wird bei Seinem Vater im Himmel sein und mitregieren!», versuchte ihre Mutter zu erklären. Nun fasste auch ihre ältere Schwester Mut, um das auszudrücken, was sie bewegte: «Es war unfassbar, noch immer möchte mein Herz fast aus meiner Brust fallen, so voller Freude bin ich!» Auch Jakobäa stimmte mit ein: «Es ist wirklich sehr erfüllend. Ich habe das Gefühl, als wäre Er noch immer bei mir!» «Ja, Er sagte doch auch, Er wäre bei uns, alle Tage, bis ans Ende der Zeit!», stimmte ihr Sohn Jakobus, der Jüngere, dem zu. «Ja, aber Er ist doch jetzt offensichtlich nicht bei uns!», versuchte Thomas seine Überlegungen fortzuführen. «Vielleicht bedeutet es auch, dass Er heute noch einmal kommt. Dass Er jeden Tag erscheint?», unternahm nun auch Philippus den Versuch, sich einen Reim daraus zu machen, was Jesus uns gesagt hatte. «Das kann ich mir nicht vorstellen! Das wäre ja, wie eine Gottheit, die sich einmal pro Tag zeigt!», kam der Einwand von Zebedäus, der bisher geschwiegen hatte. «Vielleicht ist es mehr so gemeint, dass Er uns begegnet, wir Ihn spüren können, so wie wir Ihn jetzt spüren.», auch ich versuchte mich darin, zu erfassen, was Jeschu mit Seiner gestrigen Aussage meinte. «Ich spüre ihn nicht!», meinte Thomas wiederum trotzig. «Ja, du hast ihn ja auch nicht gesehen gestern!», warf Johannes wütend ein. «Ich spüre Ihn auch nicht. Heute ist heute und gestern war gestern! Gestern habe ich Ihn gespürt und gesehen, heute nicht. Es ist wie beim Fischen: Mal hast du einen guten Tag mit vielen Fischen im Netz, mal eben nicht!», versuchte Petrus das für ihn leidige Hin und Her zu beenden. «Du kannst doch nicht die Erscheinung des auferstandenen Jesus mit dem Fischen vergleichen!», empörte sich Matthäus. «Ich bin nun mal, was ich bin und das ist ein Fischer!» Ich versuchte zu schlichten: «Hat Jesus nicht genau das uns gelehrt?» Blitzschnell stieg die Erinnerung in mir auf. «Was gelehrt?», fragte Matthäus, der sich immer ganz genau gemerkt hatte, was Jesus uns lehrte. «Dass das mit dem Fische fangen nicht einfach so ist!», versuchte ich mich weiter zu erinnern. «Was meinst du mit nicht einfach so?» «Er selbst hat uns doch einmal gezeigt, dass es eben gerade nicht einfach so ist, wie es ist.» Bevor ich erklären konnte, wovon ich sprach, unterbrach mich Lazarus: «Das wird mir nun definitiv zu viel hier. Ihr redet doch nur! Das ist dummes Geschwätz! Es gibt viel zu tun, draußen auf dem Feld. Die Arbeit erledigt sich nicht von allein!» Lazarus hatte die Geduld verloren. Er hatte sich darauf eingestellt, heute viele Helfer zu haben und freute sich auf die gemeinsame Arbeit auf dem Feld. «Oh, versteht doch, es ist wichtig, dass wir das verstehen!», ich war fest überzeugt davon, dass das, von dem ich erzählen wollte, was wir in der Vergangenheit mit Jesus erlebt hatten, mit der jetzigen Situation in Verbindung stand. «Also wenn uns Jesus etwas sagen wollte, will ich es auch verstehen!», Johannes war ganz bei der Sache. «Also, erzähl weiter!», forderte mich Matthäus auf. «Weißt du noch», ich wandte mich Petrus zu, «du hattest doch einmal keine Fische gefangen, da fuhr Er nochmals mit dir raus und ihr habt Fische gefangen, sehr viele Fische.» «So viele, wie noch nie!», bestätigte Petrus. «Ja, aber es war doch nur so, weil Jesus dabei war.», entgegnete Andreas. «Ja schon», versuchte ich den Faden festzuhalten, «aber warum hatte es funktioniert?» «Da kannst du ebenso gut fragen, warum Er Tote lebendig machen konnte, oder warum Er heilen konnte?», führte Jakobus an, der ebenfalls Fischer war. «Ich finde, das mit dem Fischen ist anders.» Es war mir noch nicht ganz klar, was es war, aber ich hatte ein Gefühl. Das Gefühl sagte mir, dass ich auf einer Spur war, die wichtig war, um zu verstehen. «Die Frage ist doch: Petrus, hast du geglaubt, dass du Fische fängst?» «Was soll die Frage? Ich bin Fischer! Ich muss nicht glauben, ich weiß, dass Fische in meinem Netz sind! Das hat mit Glauben gar nichts zu tun! Es ist eine sichere Sache!» «Jesus war für uns auch eine sichere Sache!» «Ja, weil Er da war!» Maria, Seine Mutter, verstand und kam mir zu Hilfe: «Wenn Er sagt, Er ist alle Tage da, bis ans Ende der Zeit, dann ist es so.» Ich schlussfolgerte: »Dann könnte es doch sein, dass es etwas mit uns zu tun hat, ob wir Ihn sehen und hören können oder nicht!» «Mit uns? Jetzt wird es mir allmählich zu bunt dieses Weibergeschwätz, und draußen sind schon alle an der Arbeit! Ich werde jetzt gehen!», Lazarus und einige seiner Knechte, die auch mit uns am Tisch gesessen hatten, standen auf und machten sich an die Arbeit. Die Übriggebliebenen rückten näher zusammen: «Was du sagst interessiert mich.» «Wie meinst du das, es hat etwas mit uns zu tun?» «Wir haben Ihn gesehen, weil wir still geworden sind, wir waren traurig, Ihm zugewandt. Ich weiß nicht genau wieso, aber manchmal fühle ich ganz deutlich, dass Er bei mir ist.» «Er hat dich mehr als alle anderen Mirjam.», stellte Petrus fest. «Und Er hat dich mehr gelehrt als uns. Er hat oft mit dir gesprochen. Was hat Er dir gesagt, was weißt du?», fragte Matthäus und forderte mich auf, alles, was ich wusste, mit ihnen zu teilen: «Lehre uns, was Er dich gelehrt hat!»

Noch bevor ich etwas darauf hätte antworten können, ertönte lautes Poltern und direkt hinter der Magd kamen Thaddäus und sein Vater Kleophas zu uns hereingestürmt und verkündeten: «Ich könnt euch nicht vorstellen, was wir erlebt haben: Wir haben Jesus den Christus, unseren Herrn und Meister gesehen!»

AM ANFANG

 

«Ich war in tiefer Trauer, noch im Schmerz des Erlebten und gleichzeitig, obschon zum wesentlich kleineren Teil, erfasst von dem großen Geschehen. Jesus hatte uns in alles eingeweiht und uns gesagt, dass es so kommen würde. Er würde am Kreuz sterben.»