Aus einer anderen Welt

Verborgenes Leben, 17. Juli 2024

Ich erlebte und durchlebte die Trauer um meinen kleinen Bruder aufs Intensivste. Ich weinte zwei Tage ohne Unterlass, begab mich noch einmal in all die Situationen, die uns als Geschwister verbanden und verbunden hatten. Als ich mich ausgeweint hatte, durch war damit, waren auch die Tränen versiegt. Es kehrte eine Ruhe zurück zu mir, doch der Schmerz, der nicht verstehen konnte, warum es so gekommen war, blieb. Warum musste mein kleiner Bruder sterben, warum? Hätte ich es nicht verhindern können? Hatte ich etwas falsch gemacht? Ich war über all dem, was wieder über mich hereingebrochen war, entsetzt und fassungslos. Gerne hätte ich dieses Geschehen mit jemandem geteilt, mit jemandem, der nachvollziehen konnte, wie unfassbar und unbegreiflich dieser Schicksalsschlag für mich war.

Ich hatte meinem jüngeren Bruder Sepp bei einer Vernissage, in der er seine Bilder ausstellte, Anerkennung und Respekt ausgesprochen. Dankbar erinnerte ich mich, wie meine leiblichen Brüder und ich miteinander durch und in seinen Bildern den Familienweg noch einmal gegangen waren. Eindrücklich, bewegend, ehrlich und offen zeigten sich die Geschwister dabei im Nachempfinden der Stationen und Lektionen des kleinen Familienverbundes.

Es fiel mir auf, dass die neueste Serie seiner Bilder völlig anders war, sich vom Rest seines Schaffens deutlich abhob. Der kaum 30-Jährige hatte damit begonnen, Porträts ohne Gesichter zu malen, mystisch, geheimnisvoll und neu, als wären sie aus einer anderen Welt. Als wir uns damals von ihm verabschiedeten, hatte ich kurz das Gefühl, dass ich meinen kleinen Bruder nicht mehr lebend sehen würde, was ich jedoch schnell beiseiteschob. Diese meine letzte Begegnung war nur zwei Monate vor seinem Tod. Und noch ein kurzer Gedanke bewegte mich da: «Es ist gut. Es ist alles gesagt.» Ein Gefühl erfüllte mich, wie wenn das Haus sauber geputzt ist und man sich zufrieden darin umschaut.

VERBORGENES LEBEN

 

«Schreibe für dich den Weg, der bei dir zur direkten Kommunikation geführt hat auf, denn es hilft dir beim Helfen!»