Intensivstation

Verborgenes Leben, 15. Dezember 2023
26 Jahre alt

Im Sommer 1977 musste Marias Mutter für einen ambulanten Routineeingriff an der Speiseröhre ins Krankenhaus in Luzern. Als ihr Bruder Noldi die Mutter am Abend wieder abholen wollte, lag sie auf der Intensivstation. Nach schwierigen ungewissen Stunden und einer erneuten Operation verbesserte sich der bedrohliche Zustand der 54-Jährigen, sie konnte auf die normale Station verlegt werden. Als man ihr dort Tee zu trinken gab, nahm das Unheil abermals seinen Lauf. Der heiße Tee gelangte in den Thorax und Marias Mutter musste sofort wieder auf die Intensivstation verlegt werden.

An einem der darauffolgenden Tage wurde Maria sehr unruhig, sie konnte sich diese Unruhe nicht erklären. Sie sorgte sich um ihre Mutter. Das Krankenhaus, in dem sie untergebracht war, lag gut eineinhalb Stunden mit dem Auto weit weg. Da Maria noch keinen Führerschein hatte und sie zudem am Abend mit ihrem älteren Bruder Göpf, der im Nachbardorf wohnte, zu ihrer Mutter fahren wollte, erkundigte sie sich mehrmals telefonisch bei der Stationsschwester über das Befinden ihrer Mutter. Sie bekam jedes Mal die Auskunft, alles wäre in Ordnung. So lenkte sich Maria mit Arbeiten ab und fuhr am Abend mit ihrem ältesten Bruder, so wie es geplant war, nach Luzern zur Mutter. Auf der Station kam ihnen Noldi, der mittlere Bruder, entgegen, der in der Nähe der Mutter in Buochs wohnte. Maria wusste, dass etwas Schlimmes passiert war. Seine Worte bestätigten dies: Ihre Mutter war vor einer Stunde gestorben.

Gestorben, gestorben, gestorben – allein, ohne Begleitung, an Maschinen und Schläuchen angehängt, in der Sterilität der Intensivstation. Ohne Beistand und Nähe eines geliebten Menschen! In mir brach eine Welt zusammen. Ich empfand das alles besonders schrecklich, grausam und unbegreiflich. Wie viele Menschen hatte ich in den vergangenen Jahren beim Hinübergehen begleitet? Wie vielen hatte ich die Hand gehalten und die heiße Stirn gekühlt? Weshalb durfte ich meiner Mutter nicht beistehen, weshalb und warum? Diese Tatsache erschütterte meine Seele, diese Frage nagte in mir. Vor allem haderte ich damit, dass ich meinem Gefühl nicht getraut hatte. Warum hatte ich mich nicht organisiert, warum bin ich nicht einfach losgefahren, um bei meiner Mutter zu sein? «Das konntest du nicht wissen», so wurde mir gesagt. Doch das war gerade das Schmerzvolle daran: Ich hatte es gewusst, ich hatte jedoch meinem Gefühl nicht getraut und genau das hinterließ in meinem Inneren einen großen, sehr großen Schmerz. Meine Mutter war erst 54 Jahre alt gewesen, keiner hatte damit gerechnet. Gerade hatten wir uns neu gefunden im Glück über das kleine Mädchen Nicole und nun war sie einfach nicht mehr da! Unerwartet, gegangen, gestorben, tot.  Alte Wunden wurden aufgerissen, die Ohnmacht dem Sterben gegenüber, die Endgültigkeit des Todes, der das Tor zu dieser Welt verschloss, die Worte, die nicht mehr gesagt werden können, die Brücke, auf der es kein Zurück mehr gibt, alles, alles kam wieder zurück zu mir.

Ich haderte nun erneut mit Gott, den ich nicht verstand, mit dem Schicksal, das ich nicht verstehen konnte. War es denn zu viel, zu erwarten, dass ich meiner Mutter beistehen durfte? Hatte ich nicht alles, genau dafür getan?  Warum dufte das nicht sein? Ich konnte es nicht verstehen! Ich konnte Gott nicht verstehen. Könnte ich Gott je verstehen?

VERBORGENES LEBEN

 

«Schreibe für dich den Weg, der bei dir zur direkten Kommunikation geführt hat auf, denn es hilft dir beim Helfen!»