Kurz nachdem ich mich zum Schlafen hingelegt hatte, hörte ich eine leise Stimme. Es klang wie ein leises Wimmern. Ich beschloss aufzustehen, um nachzusehen. Es kam aus dem hinteren Gartenbereich, aus der Ecke, in der ich den ganzen Tag gesessen hatte. Als ich näherkam, hörte ich, dass es kein Wimmern war, das ich gehört hatte, sondern leiser, trauriger Gesang, der plötzlich stoppte. «Wer ist da?», hörte ich Susannas Stimme. «Ich bin es, Mirjam. Ich habe deinen Gesang gehört.» «Es ist meine Art zu beten.», erklärte sie sich. «Tut mir leid, ich wollte dich nicht stören.» «Dann habe ja eher ich dich im Schlaf gestört.», versuchte sich Susanna zu entschuldigen. Ich beruhigte sie: «Das hast du nicht. Ich hätte sowieso nicht schlafen können.» «Komm näher und setz dich.», forderte sie mich auf. Ich setzte mich neben sie.
«Es ist nur schwer zu verstehen, was passiert ist.», sagte ich. «Ich kann mir nicht vorstellen, wie es für dich sein muss, die du immer bei Ihm warst. Er war ein unglaublicher Mensch. Er war so anders, so gütig, so barmherzig. Seine Predigten waren immer anders und mit immer neuen Aspekten.», erinnerte sich Susanna. «Weißt du, dass Er ganz vieles von dem, was Er predigen und lehren wollte, gar nicht konnte?», fragte ich und fuhr fort, ohne auf eine Antwort zu warten: «Er sagte, wir würden es nicht verstehen können. Ich glaube, wir haben jetzt schon vieles von dem, was Er predigte nicht verstanden.» Ich seufzte und bemerkte, dass ich Susanna mit meiner Aussage verunsichert hatte. Also schwieg ich. Eine Weile saßen wir ruhig nebeneinander.
Dann sagte sie: «Wenn ich Jesus predigen hörte, und ich ganz in meinem Inneren war wurde es vor meinen Augen heller. Beim ersten Mal dachte ich, dass ich mir dies nur eingebildet hatte, doch es war immer wieder so.» «Du hast es dir nicht eingebildet. Jesus hatte vielen Menschen das Augenlicht wieder gebracht.», bestätigte ich. «Und warum mir nicht?», fragte sie und ich spürte in ihrer Frage eine tiefe Traurigkeit. Ich nahm ihr Gefühl in mich auf und nahm wahr, wie sehr sie sich gewünscht hatte, von Jesus geheilt zu werden. Ich fühlte ihren Schmerz in mir, in dem sie sich selbst die Schuld dafür gab und sich zu unwürdig für ein Wunder fühlte, zu klein, zu unbedeutend, unwichtig – vergessen. Ein großer Schmerz tief in ihrem Herzen verborgen. Sie hatte nicht darüber gesprochen oder sich je darüber beklagt. Er war in ihrem Herzen verborgen und in jener Nacht, in dieser Frage, trat er unvermittelt an die Oberfläche. Offenbar war dies für Susanna genauso überraschend und sie sagte: «Ich will demütig sein und mich nicht beklagen. Ich habe alles, was ich brauche. Und ich habe meinen Gesang. Er tröstet mich über das, was ich nicht sehe. Wenn ich singe, entstehen Bilder in mir. Sie helfen mir und machen meine innere Welt reich und heiler.»
«Weißt du, Jesus war nicht immer glücklich mit den Heilungen und den Wundern. Gerade dann, wenn viele Heilungen waren, war er danach oft sehr erschöpft. Ich machte mir Sorgen um Ihn und fragte Ihn, ob wir irgendwie helfen könnten. Er erklärte mir, dass nicht das Heilen Ihn anstrengte, sondern die Menschen, die Erwartungen an Ihn stellten, die Menschen, die ungläubig waren und Beweise wollten. Und mir wurde bewusst, dass es nicht nur um denjenigen ging, der geheilt wurde und dieser besonders gläubig war oder speziell dafür bestimmt, geheilt zu werden. Manchmal schien es mehr darum zu gehen, die Neugier der Menschen zu befriedigen und ihnen zu helfen, den Blick auf die wirklich Bedürftigen zu richten und sich nicht immer selbst in den Vordergrund zu stellen. Es waren Schulungen, für uns Jünger und für die Zuschauer. Es war, als ob die Wunder nötig waren, damit die Menschen überhaupt an Ihn glauben konnten, glauben konnten, wer Er war. So ganz habe ich es auch nicht verstanden.», ich unterbrach, um nachzudenken.
«Bei Seiner letzten Heilung, wenn man in diesem Fall überhaupt von Heilung sprechen kann, also bei Lazarus, sah ich, dass Er weinte, während Er heilte. Erst dachte ich, dass Er um Lazarus trauern würde, doch das passte nicht zu dem, was Er uns predigte und über das ewige Leben erzählt hatte. Als wir in Bethanien angekommen waren, sagte Er zu Maria und Martha: ‹Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an Mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt, und jeder, der lebt und an Mich glaubt, wird auf ewig nicht sterben.› Dann sprach Er Martha direkt an: ‹Glaubst du das, Martha?› Marta sagte zu Ihm: ‹Ja, Herr, ich glaube, dass du der Sohn Gottes bist, der in die Welt kommen soll.› Und dann fragte Er auch Maria: ‹Glaubst du an Mich?», und Er wiederholte Seine Frage fast flehend: ‹Glaubt ihr das?› Da warf sich Maria vor Seine Füße und sagte zu ihm: ‹Herr, wärst du hier gewesen, dann wäre mein Bruder nicht gestorben.›» Ich unterbrach meine Erzählung. Ich hatte in den letzten Tagen Seine Worte immer und immer wiederholt, hatte versucht, alles in Erinnerung zu behalten, was Jesus gesagt hatte, um Ihn bei mir zu halten, um Ihn lebendig in mir zu halten, um nicht zu vergessen, was Er gepredigt hatte. Nach einer kurzen Pause fuhr ich fort: «Als ich länger darüber nachdachte, fiel mir auf, dass die beiden zwar beteuerten, dass sie an Jesus glauben würden, doch in erster Linie wollten sie ihren Bruder zurück. Bei genauerem Hinsehen begriff ich, dass die beiden Schwestern Jesus Vorwürfe machten: Dass Er nicht dagewesen sei und Lazarus nicht gestorben wäre, wenn Jesus bei ihm gewesen wäre und darüber hinaus, dass Er für alle anderen da wäre, aber nicht für sie, die sie zu Seinen engsten Freunden gehörten. Ich fand das verständlich, doch dass Jesus während der Heilung weinte, ließ mir keine Ruhe. Warum sollte Er weinen, wenn Er Seinen Freund zurück ins Leben holte? Es machte keinen Sinn.»
«Das verstehe ich auch nicht.», meinte Susanna und fügte hinzu, «So wie Maria erzählt hat, musste Er zu diesem Zeitpunkt schon gewusst haben, dass es Seine letzte Heilung sein würde. Er hat damit doch etwas Gutes getan und Seinem Freund und Seinen Freunden geholfen.» «Ich glaube, dass Er es anders sah. Er hatte die beiden förmlich angefleht Ihm zu glauben, und die beiden haben dies auch sofort beteuert. Doch Er hatte zu Ihnen gesagt: Wer an Mich glaubt, lebt, auch wenn er stirbt. Erst nach einer Weile habe ich Seinen Blickwinkel verstanden: Der Meister sagte, wer an Mich glaubt, stirbt nicht, er wird leben. Er sagte auch zu mir, Er werde nicht sterben, Er gehe zurück ins Vaterhaus, Er trete ins ewige Leben ein. Ich kann es nicht verstehen, aber da ist etwas. Es scheint um mehr zu gehen, als das, was wir als Menschen begreifen können!» «Und was soll das bedeuten?» «Ich glaube, dass Jesus weinte, weil Er sich gewünscht hätte, Seine Freunde würden verstehen, dass es um mehr geht, als um dieses Leben, dass Er mit Seiner Lehre weiterführte, dass Er etwas brachte, was weit über dem menschlichen Leben steht und Er dies verkörperte.» «Du meinst, Er weinte, weil Er sich von Seinen Freunden unverstanden fühlte», fragte Susanna verwundert, «klein, unbedeutend, unwichtig – vergessen?» «Ich weiß nicht, wie genau Er sich fühlte. Auf jeden Fall schien Ihn ihre Reaktion zu treffen.» «Dann hätte Er sich ja so gefühlt, wie ich mich fühle?», Susanna kombinierte schnell und war gleichzeitig ob ihrer Erkenntnis noch mehr verwundert.
«Lass uns schlafen gehen, Susanna, es ist schon spät.», sagte ich, verunsichert darüber, ob ich zu viel mit Susanna geteilt hatte. Als wir uns voneinander verabschiedeten, sagte ich zu ihr: «Ich glaube, Susanna, wer lernt, an Ihn zu glauben, Ihm zu glauben und zu vertrauen, der lernt zu sehen, der lernt wirklich zu sehen. Vielleicht hat Er dich nicht geheilt, weil Er dir das zugetraut hat?» «Meinst du?», fragte Susanna. «Auf jeden Fall hat Er mehr in dir gesehen, als du es siehst.», flüsterte ich ihr zu und machte mich auf dem Weg zurück zu meinem Nachtlager.
Während ich versuchte einzuschlafen, dachte ich darüber nach, was Susanna gesagt hatte. Ob Jesus sich wirklich klein, unbedeutend, unwichtig und vergessen fühlte? Konnte das sein? Warum sollte Er sich vergessen fühlen, unbedeutend? Ich versuchte mich in die Situation einzufühlen und es wurde mir bewusst: Wenn dem so gewesen wäre, dann hätte der widersacher alle Kraft gegen Ihn gehabt. Vielleicht hatte er gerade über die Freunde versucht, Jesus zu treffen, Ihm mit dem Unglauben Seiner Freunde vor Augen zu halten, wie wenig Er bewirkt hatte, wenn noch nicht einmal Seine Nächsten Ihm glauben konnten, Ihn verstehen konnten. So war es bei mir und Petrus doch auch gewesen! Mit einem Mal war ich hellwach. Konnte das wirklich sein, eine Spur der Versuchung? Es würde auf jeden Fall Sein Flehen und auch Seine Tränen erklären, am besten erklären.
Mit dieser Erkenntnis saß ich hellwach auf meinem Nachtlager und spürte die Ohnmacht, die diese Spur mit sich brachte. Wie sollte man diesen Kampf bestehen? Wie hatte Er dies tragen können? Es wurde mir immer unbegreiflicher und in mir stiegen die Tränen der Verzweiflung hoch. Weder die beiden Schwestern noch Petrus oder ich hatten gemerkt, wie sehr wir Jesus zusätzlich belastetet hatten und wir benutzt wurden, um Ihn von Seinem Weg abzubringen. Es war alles darangesetzt worden.
«Doch Vater, wo warst Du? Hättest Du Ihm nicht helfen können, bei Ihm sein und Ihn unterstützen können? Bist Du nicht der Allmächtige?», in meinen Gedanken machte ich meiner Verzweiflung Luft und bekam darauf sofort eine Antwort: «Denk weiter!», hörte ich in mir. «Wie weiter? Er ist am Kreuz gelandet – gestorben. Soll das die Lösung sein, sterben?» Wieder hörte ich in mir: «Denk weiter!» «Lazarus lebt. Soll das die Lösung sein, leben?», ich war verzweifelt und fand den Sinn nicht. Wieder hörte ich: «Denk weiter!» Ich versuchte ruhig zu werden und dachte nach. Was war nach der Heilung von Lazarus passiert? Ich versuchte nachzuvollziehen, was geschehen war: Die Schwestern hatten sich über alle Maße gefreut, ihren Bruder wieder zurückzuhaben. Sie hatten am Abend ein Festmahl ausgerichtet, zu Ehren von Lazarus und Jesus. Dann fiel es mir wieder ein: Es war der Abend, an dem ich Ihn mit dem Öl gesalbt hatte! Erst jetzt konnte ich erfassen, was dies Jesus bedeutet haben musste, der sich gerade gefragt haben mochte, ob Ihn irgendjemand je verstehen würde und ob Sein Weg irgendetwas bringen würde. Ohne zu wissen, was ich tat, hatte ich Ihm mit meiner Geste geholfen. Doch Moment, wer hatte geholfen? Wer hatte wirklich geholfen? «Du?», fragte ich verwundert, «Du hast Deinem Sohn durch mich geholfen?» Ich hörte in mir: «Mein Wunsch und Wille ist zu deinem geworden.» Ich dachte einen Moment nach und mir wurde bewusst: Das war der Sinn, das war die Lösung.