Nimm alles von mir

Verborgenes Leben, 01. August 2024

Das Zentrum unserer Glaubensgemeinschaft war in Deutschland und so war es unter den Schweizer Glaubensgeschwistern oft Thema, ob man nach Deutschland ziehen müsse, weil dort die Prophetin lebe und sich Betriebe und Wohngemeinschaften bildeten. Mir waren solche Überlegungen fremd, meine Familie und mein Umfeld zu verlassen unvorstellbar. Es entsprach ganz und gar nicht meinem Wesen und doch begann sich etwas in mir zu wandeln – leise, schmerzhaft und stetig. Bilder des Abschieds, des Gehens erschütterten mein Inneres und malten eine ganz und gar neue Dimension an meinen Horizont, die ich nicht verstand.

Ich war in den letzten Tagen meiner Ausbildung zur Krankenpflegerin, als mir auffiel, dass sich unsere lebensfrohe Tochter Nicole immer häufiger geschwächt und müde fühlte. Arthur beobachtete diese Schwankungen mit kritischem Blick und ordnete die Befindlichkeiten seiner Tochter eher einer Art Lust- und Frustprinzip zu und meinte: «Morgens ist sie immer müde und abends geht es ihr dann wieder besser? Die sollte mal besser früher schlafen gehen, dann wäre sie auch nicht ständig müde!» Ich betrachtete den Zustand unserer Tochter gelassen, dachte und hoffte, dass sich dies mit der Zeit wieder normalisieren würde. Zudem begab sich Nicole in regelmäßigen Abständen in die Sprechstunde ihres Hausarztes. Ich beruhigte mich damit und teilte Arthurs Einschätzung nicht, Nicole entziehe sich eventuell der Schule, der Aufgabe und Herausforderung. Mein Gefühl war anders, denn ich sah dafür weder Anzeichen, noch entsprach es dem Naturell unserer Tochter. Sie war eine gute Schülerin, liebte die Anforderung des Lernens und hatte einen natürlichen Ehrgeiz, gestellte Aufgaben gut zu lösen.

Es kamen die Sommerferien und Nicole freute sich darauf mit ihren Freundinnen Urlaub am Meer zu verbringen. Die Reise auf eine griechische Insel sollte in wenigen Tagen beginnen. Doch unsere Tochter lag mit hohem Fieber im Bett, fühlte sich seit Tagen abgeschlagen und geschwächt. Um die Sommergrippe möglichst schnell hinter sich zu bringen, das Fieber loszuwerden und bis zum Reisebeginn wieder fit zu sein, begab sie sich zu ihrem Hausarzt. Dieser war im Urlaub und wurde von einem Kollegen vertreten. Er ordnete eine Blutuntersuchung an und fragte nach einem kleinen blauen Fleck unterhalb der Augenpartie, der ihm aufgefallen war.

Nachdem die Ergebnisse vorlagen, überwies er unsere Tochter notfallmäßig in das Krankenhaus, in dem ich gerade meine Ausbildung zu Ende brachte.

Wir waren mehr als besorgt, standen hilflos und ratlos daneben. Unsere Tochter wurde nach den ersten Untersuchungen direkt ins Universitätskrankenhaus nach Zürich verlegt. Wir wurden ausgefragt wie in einem Verhör: «War Ihre Tochter im Ausland? Mit wem hatte sie Kontakt? Welche Krankheiten gab und gibt es in Ihrer Familie?» Die Fragen machten mir Angst. Was war los? Die Ärzte wussten es auch nicht, sie stocherten im Heuhaufen herum. So fühlte es sich für mich an. Es ging Tage, bis die Ärzte uns über die Resultate ihrer Untersuchungen unterrichteten. Mich interessierte nur die Aussage, was der Körper machte oder viel mehr, was er nicht mehr machte: Der Körper von Nicole hatte Probleme bei der Blutherstellung. Ich war überzeugt, dass es innere Gründe waren, die zu dieser totalen Blockade der Blutherstellung geführt hatten, ich hatte jedoch keine überzeugende Antwort, warum es dazu gekommen war. Ich glaubte meine Tochter gut zu kennen, dennoch hatte ich ihre Erkrankung, die schleichend gekommen war, nicht bemerkt. Das machte mir sehr zu schaffen. Der Chefarzt und der Oberarzt der Uniklinik meinten uns sagen zu müssen, dass die Lage sehr, sehr ernst sei, ob wir verstanden hätten, dass unsere Tochter in Lebensgefahr sei und sie an einer sehr seltenen, gefährlichen Krankheit der Blutbildung erkrankt war.

Wir hatten verstanden – waren in einer Art Schockzustand, trotzdem hatten wir verstanden. Die Lage war sehr ernst. Ich sah meine Tochter, sie war blass und schmal geworden. Sie war ohnehin sehr zierlich, doch sie schien nun wie durchsichtig, verletzlich und hilflos. Sie müsste fürs Erste eine Bluttransfusion bekommen, sonst überlebe sie die nächsten Tage nicht, so wurde uns mit Nachdruck erklärt, es wäre ihnen ohnehin schleierhaft, wie unsere Tochter in ihrem Zustand auf den eigenen Beinen stehen und gehen konnte. Normalerweise wäre das mit ihren Blutwerten gar nicht möglich. Sie brauchten unsere Zustimmung und Unterschrift für die Bluttransfusion, wir unterschrieben.

Ich ging zu Jesus, bat ihn, den inneren Arzt, um Hilfe und bekam keine Antwort. Doch eine andere Stimme begann zu mir zu sprechen: «Und jetzt, wo ist er jetzt, dein innerer Arzt und Heiler? Was hast du aus Liebe zu ihm alles getan und was tut er für dich?» Die Stimme begann mich anzugreifen, vor allem meinen Glauben. «Wohin hat dein Glaube dich geführt und gebracht? Hast du noch nicht genug? Reicht es dir noch nicht? Du machst dir etwas vor! Siehst du das nicht?» Diese Argumente waren wie Faustschläge, wie Attacken, in denen ich niedergemacht wurde. 

Am nächsten Tag ging ich am Morgen ins Krankenhaus, um meine Tochter zu waschen. Sie war so schwach, dass es ihr schwerfiel, die Arme zu heben, ihr Kopf lag schwer im Kissen und nur mühsam konnte sie die Augen über längere Zeit offenhalten. «Ihre Tochter kämpft um ihr Leben. Der ganze Körper war voll blauer Flecken, Blutgerinnsel überall», hörte ich die mahnenden Worte des Chefarztes. In mir begann ein Ringen: Ja, Herr, ich sehe es. Doch was soll ich tun? Was will mir diese Situation sagen? Warum bleibst du still? Habe ich etwas falsch gemacht und wenn ja, was habe ich falsch gemacht?» In mir tobte ein Kampf, ein Glaubens- und Vertrauenskampf. Ich wurde angegriffen, mir wurden Bilder der Schwäche gezeigt, in denen ich mich ernsthaft hinterfragte. Ich fühlte mich schwach in meinem Glauben, zudem war es, als würde mich jemand verspotten: «Wo ist er jetzt, dein Jesus, von dem du glaubst, dass er lebt? Wo ist jetzt, dein Gott, den du liebevoll Vater nennst? Wo ist er, wo seine Liebe? Ist es Liebe, die dir deine Liebsten nimmt, ist das Liebe? Lass dich doch nicht für dumm verkaufen! Benutze deinen Verstand! Hat Gott dich verlassen oder hast du ihn verlassen? Auch das weißt du nicht? Da kann dir keiner helfen!» Wie kann man solche Prozesse beschreiben? Wem hilft es, wenn man davon spricht, wenn man davon erzählt? Wem hilft es?

Ich fand damals keine Worte, um zu beschreiben, wie schwer es im Inneren für mich war. Es hörte auch nicht auf, auf mich einzuprasseln: «Stell dich nicht so an, andere Mütter verlieren auch ihre Kinder. Wer bist du denn, wer glaubst du denn zu sein?» Es war, als würde eine unbarmherzige Macht mich mit verbalen Faustschlägen niederschlagen: «Und du willst Gottes Werkzeug sein? Vergiss es! Vergiss es! Es gibt solche, die noch in der Demut die Größten sein wollen. Doch dieses, meine Liebe, ist wiederum Hochmut, nichts als Hochmut!»

Es waren schwere Tage, noch schwerere Nächte, von denen keiner wusste, die auch ich nicht verstand. Ich hinterfragte diese Stimme, ich wollte verstehen. Könnte es sein, dass ich mir etwas vormachte, dass ich mich gar täuschte? Sah ich vielleicht alles zu positiv, sah ich mich zu positiv? Wer konnte schon sicher sein, dass die eigene Wahrnehmung nicht täuschte? Ich wusste es nicht. Wie konnte man sich sicher sein? Ich begann das Gebet vom Niklaus von der Flühe zu beten, ich sagte diese Worte im Wissen, was sie bedeuteten:

Mein Herr und mein Gott,
nimm alles von mir, was mich hindert zu dir.                        

Mein Herr und Mein Gott,
gib alles mir, was mich führet zu dir,   

Mein Herr und mein Gott,
nimm mich mir, und gib mich ganz zu eigen dir.     

 

VERBORGENES LEBEN

 

«Schreibe für dich den Weg, der bei dir zur direkten Kommunikation geführt hat auf, denn es hilft dir beim Helfen!»