Nicht noch einmal

Verborgenes Leben, 04. August 2024

Schon früh am Morgen war ich in der Uniklinik. Ich hatte alles bereitgelegt, um meine Tochter zu waschen, die Schwestern nahmen mein Angebot gerne an, als ich sie darum bat, dies an ihrer Stelle tun zu dürfen. Ich hatte eine feine wohlriechende Seife gekauft, deren Duft auch der Zimmernachbarin in die Nase stieg. «Das wird ihr guttun, das arme Mädchen hatte heute schon schreckliche Schmerzen.» Die Rückenpunktion, dachte ich. «Oh, das arme Mädchen hat so gestöhnt, es tat ihr weh, sehr weh.» Frau Pfaff hieß die Dame, war über neunzig Jahre alt und eine Zürcher Schauspielerin. Nicole mochte sie und ich mochte sie auch. In ihrer direkten, herzlichen Art war sie erfrischend unkompliziert. Sie winkte mich zu sich, dann gab sie mir etwas von ihrer kostbaren Bodylotion und meinte: «Geben Sie diese auf ihre Brust und ihre Arme, sie wird es mögen.» Sie ließ ihre Lieblings-Lotion in meine Hand fließen und es floss auch eine Portion Mitgefühl von der alten Dame zu mir, aber vor allem zu unserem «Blüemli». Der Name, den das kleine, schutzbedürftige Wesen auf der Geburtsstation von den Schwestern bekommen hatte, kam angesichts der Verletzlichkeit und Zerbrechlichkeit meiner Tochter wieder zu mir zurück. Es war so rührend, auf eine Art tröstlich, wie die alte Dame mitfühlte und sie helfen wollte, wieder sagte sie: «Das arme, arme Mädchen.» Ich wusste, das arme Mädchen wird sich freuen und sie wird es mögen, es war ein teures Produkt und der kostbare Duft begleitete mich noch den ganzen Tag, obschon ich mir die Hände gewaschen und desinfizierte hatte. Und so war es auch noch, als ich das Krankenzimmer verließ: ein herrlicher Duft erfüllte den Raum, wie eine Art Fluidum. Die ehrliche Anteilnahme der alten Dame und ihr Mitgefühl waren für mich wie Balsam für meine geschundene Seele gewesen, ich war dankbar und es tat einfach gut. 

In diese Gedanken versunken, hing ich die frisch gewaschene Wäsche am Nachmittag an die Wäscheleine im Garten. Da hörte ich den eindringlichen Ruf einer Amsel, sie schien aufgeregt und in höchster Not zu sein, ihr Ruf war klagend, ja schmerzvoll. Ich schaute mich um. Es war ein schöner, warmer Sommertag. Ich fand keinen Grund des Klagens, also wandte ich mich wieder meiner Wäsche zu. Später tränkte ich noch die Blumentöpfe und holte Wasser aus der Wasserwanne. Entsetzt erkannte ich das Amselkind, welches in der Wasserwanne lag, das Amselkind war tot.

Ich musste mich setzen, um gleich wieder aufzustehen. Wie ein Tiger im Käfig ging ich auf und ab. Ein Zeichen. – Was wollte mir das sagen? Dass mein Kind sterben wird? – Nein, Vater, nein, nicht noch einmal, ich ertrage es nicht noch einmal! Mein Herz schmerzte, der ganze Brustkorb begann zu brennen und ein großer Druck legte sich auf mich. Lass meine Tochter am Leben, bitte!

Ein riesiger, großer Schmerz überrollte mich von innen, ich konnte mich nicht wehren, ich weinte und bat noch einmal: Nicht meine Tochter, Vater, nicht meine Tochter! Nicht meine Tochter!

In der Erkenntnis brach ich zusammen, ging auf die Knie, spürte die harten Steine unter mir und kauerte auf den Kiesplatz. Hatte ich denn eine Chance, eine Wahl? Wenn es der Plan Gottes war – was konnte ich tun? Was weiß ich denn schon? Ich weiß nichts, gar nichts!

Mir kam Abraham in den Sinn, wie er seinen Sohn auf den Berg brachte, ihn auf den Altar legte, um Gott zu zeigen, dass er IHN mehr liebte und IHM gehorchte. So fühlte ich es in mir, ein Schmerz, der mich zerreißen wollte, ein Feuer, das mich verbrennen wollte. Gab es keinen anderen Weg, als meine Tochter auf den Altar zu legen, sie IHM, ihrem Schöpfer und Vater zurückzugeben? Im Schmerz des Opferns, im «Dein Wille, Herr, geschehe. Dein Wille geschehe.» In diesem Bewusstsein legte sich ein Schleier über mein Herz und eine Dumpfheit hüllte meine Seele ein, als wäre ich nicht mehr ganz da, ich war auf dem Weg, auf dem Berg des Gottvertrauens, mit schweren Schritten, mit schwerem Herzen fühlte ich mich Abraham so nahe. Ich fühlte seine Gefühle, ich war auf seiner Spur und auf dem Weg, Gott das größte aller Opfer zu bringen. Ich brachte mein Kind, meine Tochter, ich brachte sie auf den inneren Altar. Ich spürte den Unterschied, wenn ein Opfer freiwillig gebracht wird, aus freien Stücken. Ich erkannte den Wert dieses Glaubens, der fähig wird, im Vertrauen in Gottes Plan, mitzugehen, im Wissen: Ich weiß nicht, ich kenne den Weg nicht, aber Gott weiß um alle Dinge, bei Ihm ist alles gut.

Wer kennt das Ringen um den Gottesgeist? Wer kennt den Schmerz des Opferns? Wer kennt den Opfermut und die Opferbereitschaft, um die es dabei geht?

Nach innerem Ringen, nach den schlimmsten Bildern, die sich in meinem Inneren zeigten, gab ich das Leben meiner Tochter in Gottes Hände zurück, denn ihm gehört alles Leben, ihm gehörte auch meine Tochter. Ich ließ meine Tochter los. Ein unendlich tiefer Schmerz erfüllte mein Mutterherz. Zeitgleich betete ich darum und versuchte zu verstehen, welche Botschaft diese lebensbedrohliche Krankheit hatte.

VERBORGENES LEBEN

 

«Schreibe für dich den Weg, der bei dir zur direkten Kommunikation geführt hat auf, denn es hilft dir beim Helfen!»