Zurück im Pflegeheim, versuchte ich alles, um meinen Aufgaben gerecht zu werden. Doch es gab immer wieder Situationen, die ich einfach nicht verstehen konnte. Die «Bundgemeinde» traf sich jeweils am Samstagabend. Ich wurde aus diesem Treffen oft ausgeschlossen, wie viele andere auch. Auf die berechtigte Frage, warum das so sei, kam die Antwort: «Wenn du das nicht weißt, kann man dir nicht helfen.»
Es gab diejenigen, die dabei waren und jene, die nicht dabei waren. Ich war eben meist nicht dabei. Ich hatte mich daran gewöhnt, verstand es sogar, denn das Ungenügen im Verlag hatte meinem Ruf gewaltig geschadet. Man hatte mich nun abgeschrieben, auch das verstand ich. Ich hatte einige der verantwortlichen Glaubensbrüder enttäuscht, die mich empfohlen und aus dem Pflegedienst herausgeholt hatten. Sie hatten mir zugetraut, dem Verlag der Glaubensgemeinschaft durch meinen Einsatz zu helfen aus dem Tief zu kommen, dem rückläufigen Buchverkauf zu Aufschwung zu verhelfen. Nun hatte ich genau das getan, was einer von ihnen zuvor speziell betonte: «Mach mir keine Schande!»
Ich hatte Schande gemacht. So sah es zumindest aus. Ich konnte das Vertrauen, das in mich gesetzt worden war, nicht erfüllen. Dies wirkte wie ein Brandzeichen, als wäre ich abgestempelt, mit einem Makel in meiner Seele. Wortloser und stiller tauchte ich in meine Arbeit im Pflegeheim ein, zurückgekehrt, verwundet und verletzt.
Nach einiger Zeit bekam ich die Chance, meine Tätigkeit auszuweiten. Ich arbeitete nicht mehr ausschließlich in der Pflege, sondern neu kam die Betreuung der Heimbewohner und Heimbewohnerinnen hinzu, «Aktivierungstherapie» im weitesten Sinne. Ich nutzte den zugestandenen Gestaltungsraum: Da ging es um das Annehmen der Situation, in der auch Senioren stehen, um Loslassen und um die Dankbarkeit. Ich versuchte dem Alter im Heim Sinn zu geben, half Aufgabe zu sehen und konnte beobachten, wie das gemeinsame Singen selbst Menschen, die sich in der Demenz zurückzogen, berührte, ja, dass diese sich, auf wundersame Weise, erinnerten und höchst freudig mitsangen oder sich an Sprichwörter erinnerten und diese mühelos ergänzten.
Dieses war für mich Erfüllung: Verständnis füreinander zu fördern und die guten Seiten jedes Menschen zu sehen. Ich vermittelte und verband, so wie ich es schon immer gemacht hatte und weiterhin machen wollte. Die Senioren lernten, woher der Kaffee kommt, wie und wo er wächst, wie die Schokoladenbohne aussieht, wie sie verarbeitet wird und was sie besonders fein macht. Sie lernten Leonardo da Vinci und Michelangelo kennen, erfuhren die Geschichte der Strauß-Dynastie, lernten ihre Musik und Werke kennen. Ich gab Einblicke in verschiedene Religionen, zeigte auch da die Verbindungen und weckte Verständnis für andere Kulturen. Ich erarbeitete mir immer wieder neue Themen, die ich mit den Senioren teilen konnte. In der «Erdbeerwoche» gab es jeden Tag eine Erdbeer-Leckerei, die sie zum Teil selbst herstellten. Dabei wurde auch Marmelade gekocht oder es wurden Plätzchen gebacken. Dieser Duft erfüllte dann das ganze Haus und regte die Erinnerung der Senioren an. Wir sprachen zusammen und tauschten uns über das Leben und über das Sterben aus. Am Sonntagmorgen nahm ich mir, wann immer es möglich war, die Zeit, über den Glauben, über Gott und den Sinn des Lebens zu sprechen. Ich forderte die Anwesenden heraus auszusprechen, was sie bewegte. Einige Senioren nannten diese Stunden «Sternstunden». Mein Bestreben war, in der Würdelosigkeit des alternden, gebrechlich werdenden Körpers, stets die Würde und Achtung zu wahren. Ich sah den prüfenden Blick der Frau, die in ihrem Leiden keine Worte mehr hatte, die sich säubern lassen musste und gab ihn mit Achtung und mütterlichem Wohlwollen zurück.
Die Sterbebegleitungen gehörten dabei nicht zu meinem Aufgabenbereich. Erschüttert bekam ich mit, wie diese Begleitung in den letzten Tagen und Stunden, in der Anforderung des Alltagsgeschehens oft untergingen und auch nicht so einfach zu erfüllen waren. Ich erlebte, wie gerade Glaubensgeschwister aus der Gemeinschaft in dieser Phase oft allein blieben, wenig Besuch erhielten und im Selbstzweifel, im Gefühl einer vertanen Chance, des Versagens, sich nur schwer dem Loslösungsprozess des Sterbens hingeben konnten.