Fehlbesetzung

Verborgenes Leben, 21. Oktober 2024

Bei der Arbeit erlebte ich, wie ein Klima der Angst unheilvolle Kreise zog. Ursache und Wirkung stellten oft unbarmherzig die Frage: Was hast du, was habt ihr getan? Bei allem, was passierte, ob jemand stürzte, sich verletzte oder gar starb, wurde diese Frage gestellt. In besonderem Maße wurde oft der Schwarze Peter zugespielt oder das schwarze Schaf gesucht, Nachlässigkeiten und Fehler aufgebauscht und an den Pranger gestellt. Bei Kleinigkeiten, die geschahen, wenn etwas vergessen wurde, kam ein Anruf, selbst an freien Tagen. Ich wurde einmal an meinen freien Tag wegen eines vergessenen Waschlappens in der Dusche einer Heimbewohnerin angerufen und gemaßregelt. Es war ein Klima, in dem Fehler zu Regelverstößen erhoben wurden und unguten Energien Tür und Tor geöffnet wurde. Ich hatte nur mein Gefühl und eine Ahnung, dass etwas verkehrt läuft, doch ich konnte noch nicht fassen, was. Meine Sicherheit, mein tiefes Gottvertrauen, begann zu bröckeln. Die Stimme des Angriffs in mir bearbeitete mich oft und genauso oft fragte ich mich, warum sich das alles so abspielte: Warum gab es zwei Seiten? Welche Seiten waren das?  Ich sah die Einteilung in «oben» und «unten», in jene, die das Sagen hatten und jene, die sich fügten. Ich war denen, die sich fügten zugeordnet und hatte damit auch kein Problem.

Als der Verlag für die Bücher der Glaubensgemeinschaft ausgebaut wurde und ein Buchladen entstand, bot man mir dort eine Stelle an. Da ich in der Schweiz das Büro und den Buchbestell-Service aufgebaut hatte und während vier Jahren erfolgreich betreute, brachte ich gute Voraussetzungen mit, um im Verlag in Deutschland meine Fähigkeiten einzubringen.

Der Kommentar eines Schweizer Glaubensbruders: «Aber nicht, dass du mir dort Schande machst», hatte mich zwar verunsichert und war unangenehm hängen geblieben, trotzdem freute ich mich auf die neue Aufgabe und sagte zu. Ich wusste, dass einige Schweizer Brüder, die Verantwortungsträger der Glaubensgemeinschaft waren, große Hoffnung auf mich setzten und sich auch ehrlich um mich sorgten. Ich spürte den guten Willen, die Hilfe, die mir mit diesem Wechsel der Arbeitsstelle gegeben wurde. Ich hoffte sehr, ich würde die Brüder der Glaubensgemeinschaft nicht enttäuschen. Seit meinem Unfall war ich angeschlagen und eine innere Stimme des Ungenügens traktierte mich. Ich fühlte mich unsicher, mein Vertrauen in Gott, in seine Hilfe und Führung, hatte sehr gelitten.

Auch in dieser neuen Aufgabe ging ich in die Verbindung, versuchte eine Brücke zu den Menschen zu bauen und wollte sie dort abholen, wo sie ihre Fragen stellten und nach Antworten suchten. Im Buchladen begann ich dies umzusetzen, war bei der Kundschaft beliebt, verkaufte gut, konnte gut auf Anliegen und Lebensfragen eingehen und freute mich darüber, wenn mir Vertrauen geschenkt wurde.

So bekam ich auch Einblick darin, wie viel Not und Druck unter den Glaubensgeschwistern herrschte. Ich sah auch wieder die finanzielle Not. Wenn ein Auto repariert werden musste oder eine größere Zahnsanierung anstand, hatten die Glaubensgeschwister oft kein Geld und wussten nicht, wie sie dies bewältigen sollten.

Ich sah verunsicherte Menschen, die ihre Verbindungen zur Familie abgebrochen hatten und nun darunter litten. Einmal hatte eine junge Frau erzählt, sie sei mit der ganzen Familie nach Deutschland gezogen, weil sie ihre Familie nicht verlieren wollte, doch sie hätte ihre Eltern und Geschwister trotzdem verloren, verloren an die Gemeinschaft. Sie erzählte, wie sie ihren Vater und ihre Mutter nur noch mit dem Vornamen ansprechen sollte, weil es so gewünscht wurde. Sie fing an zu weinen und meinte: «Es sind doch meine Eltern!»

Je länger ich im Buchladen und im Verlag tätig war, umso schlechter fühlte ich mich. Es war, als wäre ich eine Fehlbesetzung, zu wenig gebildet, zu einfach, nicht gut genug. Meine ehrlichen Bemühungen, die von Herzen kamen, fanden keinen Gefallen, wurden ausgebremst. Meine Art, meine Sprache, meine Gesinnung wurden nicht angenommen, nicht verstanden. Wenn ich mich dann erklären wollte, weil oft schon meine Ausdrucksweise zu Missverständnissen führte, legte man mir dies als Verteidigung aus und hörte nicht zu. Es war ein Feld, in dem Regeln, Vorgaben, Meinungen und Vorstellungen mehr bedeuteten als der Glaube. Oft wurden Sätze, die die Prophetin einmal sagte, zur Wahrheit in anderen Situationen erhoben und durften weder widerlegt noch angezweifelt werden.

Warum war das alles so? Ich frage mich damals, warum die Angst und das Misstrauen so groß waren. Wie konnte das sein? Warum wurde alles eingezäunt, warum brauchte es einen Wächterdienst, der Kontrollgänge ausführte? Kontrollen, die zu Spitzeldiensten wurden, warum war das so? Wer wollte es so?

Doch gravierender war der schleichende Prozess in mir: Ich richtete und verurteilte mich selbst, stellte mich in Frage und sah meine Zweifel als Untreue, als Verrat. Daher verbat ich mir diese Gedanken und verdrängte sie.

VERBORGENES LEBEN

 

«Schreibe für dich den Weg, der bei dir zur direkten Kommunikation geführt hat auf, denn es hilft dir beim Helfen!»