Dünnes Eis

Verborgenes Leben, 07. August 2024

Anstatt wie ihre Freunde die Sommerferien zu genießen, kämpfte Nicole in der Uniklinik Zürich um ihr Leben. Nachdem über Wochen mehrere Therapien nicht angeschlagen hatten, wollten die Ärzte einen nächsten Therapieversuch unternehmen mit drastischen Nebenwirkungen und ohne absehbare Ergebnisse. Zudem liefen bereits Abklärungen, um zu ermitteln, ob unser Sohn als Knochenmarkspender in Frage kommen würde, das wäre die letzte Option, die danach noch bleiben würde.

Entgegen ärztlichem Rat entschieden wir Eltern uns an diesem Punkt dazu, Nicole auf eigene Verantwortung aus der Klinik zu nehmen und ihr, ihrem Körper und ihrer Seele, die Möglichkeit zu geben, zu verstehen, was mit ihr los war. Mit dem Krankenhaus wurde vereinbart, dass sie zunächst täglich, später jeden zweiten Tag, zur Blutkontrolle kommen sollte. So würden die Blutwerte engmaschig kontrolliert, der Verlauf überwacht und lebensbedrohliche Situationen vermieden werden.

In der Folge erlebte unsere Tochter einen tiefen, inneren Umwandlungsprozess, in den unsere ganze Familie miteinbezogen war. Nur langsam und wider der ärztlichen Prognosen erholte sich Nicole. Ihre Blutwerte schwankten zwar, aber stiegen in kleinsten Schritten nach oben.

Für mich war der Weg meiner Tochter in die Gesundheit, ins neue Leben, ein Wunder. Nicole war sehr empfindlich, allem Lauten gegenüber, Oberflächlichkeit aller Art konnte sie nicht mehr ertragen. Sie fühlte sich ausgeliefert und war nicht im Stande etwas dagegenzusetzen, wie ein feingestimmtes Instrument, das Misstöne nicht oder nur schwer aushalten konnte. Sie selbst verglich ihren inneren Boden mit sehr dünnem Eis. Diese Dünnhäutigkeit hatte immer direkte Auswirkungen auf die Blutwerte, konnte zurückgeführt werden auf die Begebenheiten im Tag. Durch die häufigen Kontrollen und Messungen erkannten wir in den Blutwerten ein Barometer für Nicoles inneren Zustand. Es war erstaunlich, wie alles, was geschah, sich sofort in den Blutzellen abzeichnete.

Wenige Monate bevor ihre Maturaprüfung angestanden hätte, brach unsere Tochter aus gesundheitlichen Gründen die Schule ab. Alles hatte sich verändert in ihrer inneren Reifeprüfung. Durch ihren Entwicklungsprozess hatte der Weg im Äußeren, den sie ursprünglich eingeschlagen hatte, eine neue Richtung bekommen. Sie fand zurück auf ihre innere Spur, steckte sich neue Ziele, nahm sich Zeit für ihre Heilung und begann schließlich ihre Lehre als Drogistin. Ich war dankbar, fühlte mich erleichtert, weil sie wieder ihr Leben in die Hand nahm, ihre neue Spur wie eine fleißige Schülerin verfolgte. 

Auf den Tag genau, ein Jahr nachdem Nicole ins Krankenhaus eingeliefert wurde, bekam unsere Familie Besuch: Ein junges Kätzlein streifte um Arthurs Beine, als er im Garten arbeitete. Sie war abgemagert, hatte einen leeren Ausdruck in den Augen und war sehr anhänglich. Nachdem sie nach mehreren Tagen noch immer bei uns blieb, brachten wir sie zum Tierarzt. Es stellte sich heraus, dass auch die Katze eine Bluterkrankung hatte. Und nachdem sich auf unsere Aufrufe niemand gemeldet hatte, entschieden wir uns, die Katze aufzunehmen. Das kleine Wesen bei uns gesunden und aufwachsen zu sehen, war für uns alle nach der schweren Zeit eine große Freude. Der Umgang mit dem neuen Familienmitglied tat der ganzen Familie gut. Als einige Monate später drei kleine Kätzchen zur Welt kamen und das Haus eroberten, beglückte dies uns alle.

VERBORGENES LEBEN

 

«Schreibe für dich den Weg, der bei dir zur direkten Kommunikation geführt hat auf, denn es hilft dir beim Helfen!»