Ich hatte mich schon über längere Zeit körperlich nicht fit gefühlt, rettete mich von einem Frei ins nächste. Und obwohl ich in der Schweiz gerade ein paar Tage Urlaub gemacht hatte, fühlte ich mich danach nicht erholt, nicht leistungsfähiger. Am Mittwoch vor Pfingsten reiste ich nach Deutschland zurück, am Donnerstag begann ich wieder zu arbeiten. Als ein Angehöriger eines Heimbewohners zu mir sagte: «Sie waren doch im Urlaub, doch Sie sehen nicht erholt aus, geht es Ihnen gut?», hatte dieser ausgesprochen, wie ich mich fühlte. Ich wollte gleich nach Pfingsten zum Arzt gehen, denn er hatte ja Recht. Es ging mir wirklich nicht gut.
Als an jenem Donnerstag vor Pfingsten, im Jahre 2013, meine Tochter das verlängerte Wochenende im Spessart verbringen wollte, spürte sie am Abend, dass sie mich anrufen musste. Noch während des Gesprächs am Telefon erkannte Nicole, als angehende Heilpraktikerin, aufgrund der Symptome, die ich ihr beschrieb, dass sie dringend handeln musste. Nicole fuhr unverzüglich zu mir und brachte mich, ohne zu zögern, ins Krankenhaus. Dort wurde ich mit alarmierenden Werten auf die Intensivstation verlegt und in kurzen Zeitabständen kontrolliert und beobachtet.
Ich musste über Pfingsten im Krankenhaus bleiben, das war schnell klar und ich stellte mich darauf ein. Ich wollte diese Zeit für mein Inneres nutzen. Pfingsten, kein Zufall – ich bat um Hilfe und Kraft, betete um den Geist der Wahrheit. In mir waren so viele ungeklärte Fragen, die mir keiner beantworten konnte.
Ich wurde in ein Zweibettzimmer verlegt, wo ich alleine war, ohne Bettnachbar. Diese Situation nahm ich dankbar an. Meine Tochter brachte mir eine Decke in meiner Lieblingsfarbe und einen feinen Duft, worin ich mich einhüllen konnte. Dazu noch die kleinen Büchlein von Seltmann, die ich schon lange lesen wollte und für die mir nun Zeit gegeben wurde.
Das Schwierigste in dieser Situation war nicht mein körperlicher Zustand, das Schwerste für mich war, meinen Arbeitsausfall anzunehmen. Ich wusste, was es für Mitarbeiterinnen bedeutete, wenn jemand ausfiel und seiner Arbeit nicht nachkommen konnte. Ich wusste auch, wie Krankheit in den Reihen der Glaubensgemeinschaft bewertet wurde: Wer krank wurde, hatte etwas falsch gemacht – eine weitere Regel, die aufgestellt war und zur Wahrheit erhoben, wurde. Diese wurde dann als Keule über Gesunde und Kranke geschwungen. Ursache und Wirkung, das war eine Gesetzmäßigkeit, die nicht zur Diskussion stand.
Diese Vorgaben wurden anfänglich auch in mir lebendig, eine Art schlechtes Gewissen musste überwunden werden. Doch auch dieses angebliche schlechte Gewissen hinterfragte ich nun ernsthaft. Ich bearbeitete meine Gefühle, wägte sie ab, suchte die Wahrheit. Wiederum waren es Gefühle des Versagens, die es zu hinterfragen galt. Ich nahm diese Situation an, akzeptierte den körperlichen Einbruch, dem ich nichts entgegensetzen konnte und wandte mich umso intensiver meinem Inneren zu.
Berta:
An diesem Pfingstwochenende fuhr ich ebenfalls nach Deutschland zu einem Treffen im Rahmen der Glaubensgemeinschaft. Als ich erfuhr, dass Maria im Spital lag, wollte ich sie natürlich am folgenden Tag besuchen, nicht die vorgesehene Veranstaltung. Maria hatte eine ernste Stoffwechselerkrankung und befand sich zum Glück in guten Händen. Ich wusste, dass Maria sehr viel aushalten konnte und dieser gesundheitliche Einbruch bestimmt einschneidend in ihrem Leben sein würde.
Ich sah die verschiedenfarbigen Büchlein, die im Stapel auf ihrem Nachttisch lagen und ich wusste, Maria würde auch aus dieser Situation das Allerbeste für sich und für ihr Inneres machen. Ich erfuhr später, dass sie im Spital all diese Büchlein gelesen hatte. Sie erzählte mir, wie bedeutungsvoll diese für sie waren, nicht weil sie ihr viel Neues erschlossen hätte, sondern weil sie darin Bestätigungen ihrer eigenen Wahrnehmung, ihrer eigenen Gedanken, ihrer eigenen Gefühle gefunden hatte.
Maria:
Ich nutzte die geschenkte Zeit zum Lesen. Wie war es damals? Was Jesus damals lehrte, hatte für mich heute Gültigkeit. Ganz selbstverständlich wurden in meiner Lektüre verschiedene Dimensionen ineinander geführt. Dieses war neu für mich, es fühlte sich jedoch nicht neu an, es war mir eher vertraut, ohne dass ich es mir erklären konnte. Mit großem Interesse las ich die kurzen Hefte von Max Seltmann: In einfacher Sprache wird das Leben Jesu erzählt, gegenwärtig als Szenen beschrieben, in Gesprächen der beteiligten Personen, in Geschichten erzählt.
Es war für mich eine Bestätigung von etwas, das ich kannte und in mir trug. Die Lektüre stärkte mich, weil in mir etwas genährt wurde, was ich schon seit langem fühlte: Das Bedürfnis in den Ursprung der Heilsgeschichte einzutauchen. Ich sprach oft davon, dass ich dadurch auch meinen eigenen roten Faden wieder aufnehmen, dieser Spur folgen konnte, rückwärts und vorwärts. Dadurch drehte sich einiges in mir und in meiner Sichtweise.
Ich lernte die Gemeinschaft neu und tiefer zu hinterfragen, nahm nicht alles an und auf, sondern ergründete Hintergründe. Ich begann zu unterscheiden zwischen dem, was zugesprochen und zugedacht wurde, und meiner Wahrnehmung, ja, meiner eigenen Wahrheit und meiner eigenen Wirklichkeit. Was ist das, die eigene Wahrheit? Was bedeuten die Worte Jesu: «Ich bin der Weg, die Wahrheit und das ewige Leben»? Ich ergründete, wollte tiefer verstehen und rang um innere Erkenntnis: Was war Wahrheit, was war Weisheit? Wer hatte diese? War sie für jeden Menschen gleich?