Inzwischen hatte meine Tochter Nicole in dem Betrieb, in dem sie arbeitete, den Vertrieb der Naturprodukte für die Körperpflege übernommen. Sie kreierte Prospekte, gab jedem einzelnen Produkt eine individuelle Stimme und überzeugte dabei mit ihrem Einfühlungsvermögen für die Produkte und für den Kunden. Mit Freude und Engagement baute sie den Vertrieb auf und aus. Sie ging mit den Produkten auf Messen im In- und Ausland und ich half ihr in meiner Freizeit bei solchen Einsätzen. Und so kam es vor, dass ich an ihrer Seite stand und mithalf diese Produkte zu verkaufen. Der Kundenkontakt tat uns beiden gut, der Erfolg half sowohl ihr, um im neuen Land besser Fuß zu fassen, wie auch meinem angeschlagenen Selbstbewusstsein.
Ich sah, dass auch meine Tochter einiges zu bewältigen hatte. Doch sie klagte nicht, arbeitete effizient und erfolgreich. Neben ihrer Arbeit wirkte sie zusätzlich als Moderatorin in Sendungen des TV-Senders der Glaubensgemeinschaft und gestaltete diese auch redaktionell mit.
Sie war unbedarft, hatte keinen doppelten Boden, hatte keine gute Menschenkenntnis und sah nicht hinter die Kulissen. Nicole ging ihren Weg, passte sich in ihrem Äußeren nicht an, blieb sich treu. Sie hatte immer noch ihr freudiges Gemüt, in dem sie sehr offen auf Menschen zuging. An den internationalen Jugendtreffen der Glaubensgemeinschaft, die sie mitgestaltete und mitleitete, war sie ein begeisterter Teil, sowohl ernst und einfühlsam als auch ausgelassen und freudig. Doch ich wusste, diese, ihre Art wurde teils mit Argwohn betrachtet, denn damit passte sie sich nicht an, so wie es erwartet wurde. Nicole blieb eigenständig, hielt sich nicht an feste Vorstellungen, Meinungen und Regeln. In dieser Treue zu sich selbst, eckte sie oft an, ohne es zu merken.
Ich erkannte auch erste Anzeichen der Unfreiheit bei ihr, doch sie schien gut damit zurechtzukommen.
Einmal kam einer, der im Umfeld der Prophetin tätig war, auf mich zu und fragte, ob meine Tochter ein Alkoholproblem habe. Diese Frage befremdete mich sehr. «Ich habe meine Tochter noch nie Alkohol trinken sehen», antwortete ich wahrheitsgetreu. Was sollte das? Wurde Nicole beobachtet? Wer verbreitete solche Gerüchte? Und vor allem warum? Es hatte mich wirklich getroffen. Ich fand es rufschädigend und unverschämt. An welchen Tischen wurde darüber debattiert und verhandelt? Wollte man meiner Tochter die Glaubwürdigkeit absprechen? Empfand man ihre Selbstständigkeit als Herausforderung, als Gefahr, indem sie zum Vorbild für andere werden könnte, weil sie eigenverantwortlich blieb?
Durch diese Nachfrage über meine Tochter ließ ich mehr Misstrauen in Bezug auf die Gemeinschaft zu. Ich empfand diese haltlose Mutmaßung wie eine Beschmutzung ihrer sauberen Seele. Ich kannte das Entsprechungsgesetz und hatte es bei mir selbst in allen Situationen angewandt, mich hinterfragt und an mir gearbeitet, bis ich sauber war in meinem Empfinden, in meinem Denken, in meinen Wertungen und Bewertungen. Über die Situation mit meiner Tochter begann ich nun jene zu sehen, die in ihrer Entsprechung, ohne Verstand und ohne Skrupel ihre Nächsten beschmutzten, ihnen das zusprachen, was sie selber waren und sind.
Ich kannte meine Tochter, kannte ihre Ehrlichkeit, ihren Kampf und ich kannte auch ihre Siege. Wie armselig, wie wenig Menschenkenntnis, wie wenig Verständnis, wie wenig Wohlwollen war in den Reihen der Glaubensgemeinschaft gewachsen? Konnte das tatsächlich sein?