Eine alte Frau, die in einem der Mehrfamilienhäuser wohnte, die ich betreute, lebte sehr zurückgezogen und war bekannt dafür, dass sie nur wenige Worte mit ihren Nachbarn wechselte. Es war kurz vor Ostern und ich stand unter Zeitdruck, da ich am nächsten Tag zu einem großen Treffen der Glaubensgemeinschaft fahren wollte. Davor sollte alles tipp-topp in Ordnung sein, der Rasen gemäht, alle Treppenhäuser der vier Mehrfamilienhäuser gereinigt und es wollte alles für die Familie vorbereitet sein, damit diese in meiner Abwesenheit gut versorgt war. Ich war gerade mit meinen letzten Arbeiten fertig, als die stille Nachbarin auf mich zukam und mich um ein Gespräch bat. Ich vertröstete sie auf einen späteren Zeitpunkt, dann würde ich mir gerne die Zeit nehmen. Ein Umstand, der bei mir eigentlich nie vorkam, da ich mir immer die Zeit nahm, wenn jemand Sorgen hatte, Anteilnahme und Ermutigung brauchte. Diese Haltung bestimmte meinen Tag, diese Lebenseinstellung bestimmte meine Wochen, so verstand ich Gottesdienst und Seine Führung. In diesem Fall, dieses einzige Mal, hatte auch ich meine Türe verschlossen gehalten. Ich war angemeldet mit dem Bus nach Deutschland zu fahren, um bei einer weiteren Offenbarung, in der Gott, der Vater, oder Christus sprechen würde, dabei zu sein. Zum versprochenen Gespräch kam es nicht mehr, denn es kam anders.
Am Osterdienstag, morgens um neun Uhr, stand die Polizei vor meiner Tür und erkundigte sich nach dieser Nachbarin, sie würde seit Samstag vermisst. In ihrer Wohnung hatte sie die Nachricht «Ins Wasser» hinterlassen. Einige Monate später wurde die Leiche der alten Frau in einem großen Fluss in der Nähe gefunden.
Hatte ich etwas Wesentliches versäumt, falsche Prioritäten gesetzt? Hätte ich wiederum besser auf mein Inneres hören sollen?
Solche Fragen quälten mich so lange, bis ich allmählich annahm, was passiert war. Ich tröstete mich damit, dass ich nicht verhindern konnte, was sich jemand vornahm, dass Leben und Tod nicht in meiner Hand lagen. Doch ich wusste, ich hatte meine Türe verschlossen, hatte meinen Gottesdienst versäumt, war wie der Pharisäer zum äußeren Gottesdienst geeilt und hatte die Hilflose liegen lassen. Die andere Stimme in mir argumentierte: «Wer würde nicht kommen, wenn Gott ruft, wenn Er spricht?»
Ich bat beschämt um Vergebung, erlebte die Betroffenheit, mit der Hinterbliebene in so einer Situation zurechtkommen müssen. Ich gestand mir mein Versäumnis ein, bat die Seele der Verstorbenen am Grab laut und tief beschämt um Vergebung. Ich verließ das offene Grab, verließ die kleine Trauergruppe, verließ den Friedhof. Traurig musste ich mir eingestehen, dass ich mein Gebet nicht erfüllt hatte: Licht zu bringen, wo Finsternis ist, Hoffnung zu bringen, wo Zweifel quält. Doch eine Stimme in mir, redete mir meine Zerknirschung aus: «Bedenke, wie wichtig es war, dabei zu sein, wenn Gott spricht, du hättest eh nichts tun können, hättest nichts verhindern können.»
In mir blieb ein Schmerz, der Schmerz eines Versagens, eines Ungenügens, es fühlte sich an, wie wenn ich eine Prüfung nicht bestanden hätte. Es blieb ein leiser Schatten in meiner Erinnerung an meine Nachbarin, ich hatte nicht alles getan, was in meiner Macht stand.