Jerusalem war in den Tagen vor dem großen Passahfest übervoll mit Pilgern, die diesen höchsten Feiertag, der der Befreiung aus der Sklaverei durch Moses gedachte, verbringen und begehen wollten. Als der Pilgerzug, dem sich Maria angeschlossen hatte, vor der Stadt ankam, löste er sich auf, jeder hatte von ihnen ein anderes Ziel. Viele kamen bei Verwandten unter, einige in Herbergen und wieder andere bei Freunden. Maria wollte mit einigen nach Bethanien weiterreisen, doch etwas fühlte sich bei diesem Gedanken nicht gut an. Deshalb nahm sie das Angebot der blinden Susanna an, in ihrem Haus zu bleiben. Lea wollte mit einigen Freunden von Jesus weiter nach Bethanien ziehen. Insgeheim hoffte sie, Jesus dort zu treffen, um etwas Zeit in seiner Nähe verbringen zu können. Das Haus von Susanna hatte einen Garten mit schönen alten Bäumen, sie lebte mit ihrer Schwester und einer Dienstmagd zusammen. Ihr Haus war bekannt für ihre Gastfreundschaft. Sie freuten sich sehr darüber, dass Maria bei ihnen Herberge suchte, es war Susanna und ihrer Schwester eine Ehre, denn beide Frauen verehrten Jesus, der auch schon einige Male Gast in ihrem Hause gewesen war und der sogar in ihrem Haus und Garten gelehrt hatte.
Maria liebte es in diesem Garten zu wandeln, in ihm zu sitzen und dabei in ihrem Inneren zu verweilen. Die beiden Schwestern waren freudig, sie erzählten, dass Jesus auch in Jerusalem sei. Sie berichteten, wie er in Ehrerbietung empfangen worden war, die Menschen mit Palmzweigen am Wegesrand gestanden hatten und ihm gehuldigt hatten, ihm, dem Heiler, ihm, dem Lehrer, ihm, dem Meister der Liebe. Maria hörte in die Worte. Für sie zeigte sich in der Tatsache, dass Jesus zurück nach Jerusalem gekommen war, weniger die Freude. Sie traute dem Frieden dieser Erzählung nicht, vielmehr spürte sie die große Spannung, in der sich Jerusalem befand. Sie betete für ihren Sohn, für Seinen Weg, sie betete für seine Freunde, die nicht wussten, was die nächsten Schritte bedeuteten und ihnen abverlangen würden. Sie bat um Kraft und Stärkung ihres eigenen Glaubens, sie rang um den Mut und um das unerschütterliche Vertrauen, welches ihr Sohn und auch sie brauchen würden. Sie traute dem Halleluja der Menschen nicht, sie erkannte, wie beeinflussbar und unmündig, wie wenig tragfähig sie waren. Sie wappnete sich, denn sie spürte, wie die Gefahr sich wie eine dunkle Wolke über Jerusalem legte. Sie sehnte sich nach ihrem Sohn, sie wollte wissen, wie es Ihm ging, wie er mit all dem zurechtkam. Maria war unruhig, fand keinen Schlaf und die Last, drückte schwer auf ihren Schultern. Könnte sie doch nur Jesus erreichen, sie war ihm nah, und doch schien er weit weg zu sein, unerreichbar für sie.
Es wurde Abend. Wieder wurde ganz Jerusalem in ein außergewöhnliches Abendrot getaucht, es wirkte wie verzaubert. Es war Maria aufgefallen, dass in den vergangenen Tagen das Morgen- und das Abendrot besonders intensiv gewesen waren. Sie wusste, dass war kein Zufall, es war für sie wie eine Himmelsermutigung.
Maria lebte mit den Zeichen, mit ihrem Gefühl, ihrer Intuition und ihren Visionen. Sie war von Innen geführt, doch wenn sie in Angst und Sorge ging, wurde diese innere Verbindung gestört, und die Ängste konnten sich in ihr ausbreiten. Während das Abendrot langsam verschwand, rang sie in sich mit der Angst und mit ihrem widergeist, der ihr einredete, dass alles keinen Sinn hatte, dass es nichts ändern würde, die Menschen nichts verstehen und schon gar nicht erfassen konnten, dass ihre Opfer und die Opfer ihres Sohnes vergebens sein würden.
Es war schon Nacht, als heftiges Klopfen die Hausbewohner aufschreckte. Zwei der Jünger Jesu, begehrten Einlass. Sie waren sichtlich nervös, sie spürten auch die Anspannung, die in der Luft lag. Mit Freude begrüßten sie Maria, die sie nicht in Jerusalem erwartet hatten, und gleich darauf begannen sie zu erzählen:
«Jesus hat uns in die Straßen von Jerusalem geschickt. Wir sollten einen Mann finden, der einen Saal hat. Wir sollten ihn fragen, ob wir diesen Saal in zwei Tagen nutzen könnten, um miteinander das Passahmahl zu halten. Zu unserer Verwunderung fanden wir, kurz nachdem wir auf unsere Mission aufgebrochen waren, diesen Mann, der auf der Straße vor seinem Haus auf etwas zu warten schien. Wir fragten ihn, ob er jemanden kenne, der einen Saal hätte. Der Mann bejahte unsere Frage und führte uns in ein Gebäude mit einer großen Halle, mit einer langen Tafel. Er sagte, er habe auf uns gewartet. Des Nachts seien ihm im Traum zwei Boten erschienen, die nach einem Saal gefragt hatten und diese erkenne er in uns beiden wieder. Ihm war klar gewesen, dass es sich um einen wichtigen Traum handelte und dass dieser sich erfüllen müsse. Er war schon den ganzen Tag immer wieder nach draußen getreten, damit er uns nicht verpassen würde. Bevor wir ihn trafen, hatte er sogar eben eine Arbeit unterbrochen, weil ihn etwas dazu drängte, aus dem Haus zu gehen.
Die Erleichterung des Mannes war auch die unsere. Wir hatten uns, als wir auf diese Mission aufgebrochen waren Gedanken gemacht, hatten Zweifel, ob diese Aufgabe des Meisters überhaupt zu schaffen sei. Es schien uns unmöglich. Doch dabei erinnerten wir uns an eine ähnliche Situation, die sich zugetragen hatte, bevor wir Jerusalem erreicht hatten.
Jesus schickte uns beide voraus, mit der Aufgabe, einen Esel zu suchen und ihn zu ihm zu bringen. Wir fragten, was wir für den Esel bezahlen sollten, doch Jesus entgegnete nichts weiter, er gab keine Erklärung, keine weiteren Erläuterungen. Wir sahen einander hilflos an und gingen. Wohin sollten wir uns wenden? Wo würden wir den Esel finden? Wir wussten es nicht. Jesus schien es jedoch sehr wichtig zu sein. Wir haben uns schon an vieles gewöhnt an der Seite unseres Meisters und so gingen wir ratlos und ohne klares Ziel, bis wir erfassen konnten, dass Jesus auch für diesen Auftrag seine Gründe hatte. Es musste einen Sinn ergeben, weil er uns gelehrt hatte, dass alles einen Sinn hat und in der Führung Gottes steht. In dieser Erkenntnis wurden unsere Schritte kraftvoller, unser Glaube fester und kurz darauf sahen wir eine Eselin auf der Wiese stehen, als würde sie auf uns warten.» «Und was war dann mit der Eselin?», unterbrach die Schwester von Susanna die Erzählung. Einer der Jünger erzählte weiter: «Wir brachten sie zu Jesus und zu unser aller Erstaunen, trottete sie neben ihm her, ohne Führung, ohne Seil.»
«Unsere Verwunderung wurde noch größer, als der Meister sich einige hundert Meter vor den Toren Jerusalems auf den Esel setzte. Einige von uns konnten ihr Murren über diese Geste nicht zurückhalten. Jesus war doch ein junger und gesunder Mann. Es gab keinen Grund, dass er auf einem Lastentier reiten müsste. Es war ein Zeichen von Schwäche, er hat damit alle vor den Kopf gestoßen. Wir kennen unseren Meister, wir wissen um seine Stärke und Macht, und anstatt diese zu demonstrieren, empfanden wir seinen Einritt auf dem kleinen Esel eher peinlich und beschämend. Einzig Mirjam zeigte keine Regung des Befremdens. Es schien, als wüsste sie, worum es bei all dem ging.»
Es entstand eine Pause, in der jeder seinen eigenen Gedanken und Erinnerungen nachging. So oder anders hatten sie alle schon ähnliche Situationen mit Jesus erlebt. Oft war er unergründlich und seine Handlungen unverständlich, er war ganz und gar konsequent, gleichzeitig voller Güte für jene, die in gutem Willen und ehrlichen Herzens waren. Diese seine Haltung, die er zeigte und ihnen vorlebte, war beispielhaft, sehr anspruchsvoll, und für jene, die ihn begleiteten oft schwer anzunehmen. Der Mensch war empfindlich und schnell beleidigt, fühlte sich durch seine Worte oft entblößt und durchschaut. Nicht nur deshalb war Jesus etwas ganz Besonderes, darüber war man sich bei der überraschenden Zusammenkunft im Haus von Susanna und ihrer Schwester einig. Da es schon sehr spät war, übernachteten die beiden Jünger bei den Schwestern und brachen am nächsten Morgen sehr früh wieder auf, um zu Jesus und den anderen zurückzukehren.
Maria wusste, dass auch der Ritt auf dem Esel eine Verheißung der Propheten war, und sie wusste, dass ihr Sohn diese Verheißung als Zeichen für die Menschen erfüllt hatte. So, wie Jesus es ihr erklärt und sie gelehrt hatte, so, wie er ihr zeigte und sagte, dass sich die Verheißungen erfüllen werden, so gehörte auch dieses Geschehnis zum Plan Gottes. Das Geistwesen in Maria zeigte ihrem Menschen mehr und mehr den göttlichen Plan, der nicht zur äußeren Befreiung des Gottesvolks führen würde, sondern eine viel größere Dimension hatte. Sich in diese Dimension zu begeben und dem zu glauben, forderte ihr ganzes Vertrauen. Und wieder sah sie sich in großer Not vor Gott, in größter Demut und Gehorsam: Siehe, ich bin die Magd des Herrn, mir geschehe nach Deinem Wort und Willen. Marias Kampf fand im Verborgenen statt, in den Nachtstunden. Sie sprach nicht darüber. Wer könnte sie und ihren Kampf verstehen? Wer könnte diesen Weg mit ihr gehen? Es gab niemanden. Manchmal wachte sie auf und konnte einige Bilder der Begegnung mit Jesus, dem Christus, mit in ihren Tag nehmen. Das geschah jedoch nur dann, wenn sie frei war, wenn sie nicht haderte, nicht in der dunklen Wolke war, die sie immer wieder einzuhüllen vermochte. Immer und immer wieder ging Maria den Weg der Schmerzensmutter, flehte vor Gottes Thron um Glaubensstärke und Glaubenskraft. Sie wusste, dass sie ihrem Sohn helfen konnte, wenn sie nicht ihre menschlichen Muttergefühle in den Vordergrund stellte. Sie musste diese Gefühle überwinden, um ihn zu stäken. Die beiden Schwestern, in deren Haus Maria weilte, machten sich Sorgen um sie, sie sahen ihren Kampf, doch sie verstanden ihn nicht. Sie sahen ihre Schwermut, doch sie waren hilflos. Sie sahen, wie der Schmerz Marias Gesicht zeichnete, ihre Sorgen zogen Furchen in ihren Körper.
Am zweiten Tag nach dem Besuch der Jünger, trat am Nachmittag Jesus in den Garten, in dem Maria in sich versunken saß. «Mutter», sprach Jesus sie an und sie sprang auf und schmiegte sich in die Arme ihres geliebten Sohnes. «Mutter, es ist soweit.» Maria sagte nichts. Sie wich seinem Blick aus, sie wollte nicht in Tränen ausbrechen, sie wollte es ihm nicht noch schwerer machen, als es ohnehin schon war. «Bete für mich, Mutter. Bete für mich, so wie du es immer getan hast, bete für mich!» Maria löste sich aus seiner Umarmung und suchte seinen Blick, sie sah seinen Schmerz, sie sah die große Enttäuschung der Jünger, die Trauer und das Unverständnis, durch die auch sie durchgehen musste und durchgegangen war. «Mutter, sie werden dich brauchen. Sei auch ihnen Mutter, die Mutter, die du für mich immer warst. Hilf ihnen, hilf Mirjam. Es wird sie sehr schmerzen und die Brüder sind ihr nicht wohlgesonnen. Sie stecken noch fest in ihren Traditionen, in denen die Frauen eine sehr untergeordnete Rolle spielen. Stärke und stütze sie, sie trägt die Frauenrolle ins Vollbracht, so wie auch du die Mutterrolle ins Vollbracht führen wirst.» «Wer wird mir dabei helfen?» «Ich werde dir helfen. Ich kann dir mehr helfen, wenn ich wieder in meines Vaters Haus zurückgekehrt bin.» Nun legte Jesus seine Hände um ihre Wangen und umfasste ihr Gesicht, ihre Augen füllten sich mit Tränen, doch sie weinten nicht. Er schaute tief in ihre Augen und sie wich seinem Blick nicht mehr aus: «Maria, wir schaffen das. Du als Mutter und ich als Sohn unseres Vaters im Himmel. Das ist der Plan, zu dem du damals Ja gesagt hast. Für mich ist es noch nicht vollbracht und es ist mein Wunsch und Wille dieses Vollbracht zu sprechen. Maria, ich werde sterben und am dritten Tag auferstehen, damit wird die Brücke zurück zum Vater für alle Geistwesen, für die verlorenen Söhne und Töchter wieder möglich werden. Glaube diesen meinen Worten, bewahre sie in deinem Herzen, vergiss sie nicht, und erhebe deinen Geist in den Geist des Vaters!» Maria sah in einer kurzen Schau, die Engel, die sie umgaben, sie sah den großen Ernst, doch sie sah auch die große Freude und den Lobgesang, in dem die geistige Welt sich vorbereitete auf den Durchbruch, der geplant war und den alle erhofften. Dieser Blick in die geistige Welt half Maria. Er stärkte sie, als wäre ein Schleier zur Seite gezogen worden, eine neue Sicht, eine Klarheit, die über dem weltlichen Verständnis lag. Und nun legte Maria ihre Hände um das Gesicht ihres Sohnes und sagte mit fester Stimme: «Ja mein Sohn, wir werden es schaffen, aus Liebe zu Gott und aus Liebe zu den verirrten und verlorenen Söhnen und Töchtern Gottes, ja wir schaffen das!» Eine letzte Umarmung und Jesus war mit schnellem entschlossenem Schritt gegangen. Diese Begegnung mit ihrem Sohn im kleinen Garten half Maria. Sie würde ihrem Sohn helfen können, indem sie stark war, indem sie seinen Weg weiter in ihrem Inneren begleitete.